Der Weg ins Ungewisse - Gedanken über Selbstbestimmung im Alter.
Heute vor 15 Jahren - am 17.05.2000 - erhielt ich die Diagnose Prostatakrebs.
Dieses "Jubiläum" ist für mich immer wieder Anlass, Bilanz zu ziehen, um sowohl die Vergangenheit wie auch die Gegenwart zu bewerten und Zukunftschancen einzuschätzen.
Bereits zum 14. Jahrestag hatte ich in diesem Bericht erwähnt, dass sich bei mir eine gewisse Gelassenheit eingestellt hat, die im wesentlichen aus meinem Alter resultiert. Das aufgetretene Rezidiv zeigt eine sehr geringe Progression, sodass ich davon ausgehe, dass es mir keine Schwierigkeiten mehr macht.
Ich hatte weiter erwähnt, dass meine Lebensqualität durch andere Faktoren stark beeinträchtigt wird. Eine seit 20 Jahren bestehende Polyneuropathie hat in Verbindung mit weiteren altersbedingten Abbauprozessen zu deutlichem Muskelabbau, verbunden mit Schwäche, Sensibilitäts- und Koordinationsstörungen geführt.
Mit den nachfolgenden Gedanken möchte die Aufmerksamkeit auf Probleme lenken, die nicht PK - spezifisch sind, aber jeden von uns betreffen. Es geht um die Folgen der demographischen Entwicklung, auf welche Staat und Gesellschaft nicht genügend vorbereitet sind.
Meine aktuelle Situation
Der oben erwähnte Trend hat sich leider fortgesetzt.
Die geschädigten Nervenbahnen leiten Impulse und Reflexe nur abgeschwächt und mit Verzögerung zu den Zielorganen, sodass vor allem in den Extremitäten motorische und sensorische Defizite entstehen und vermutlich auch die Versorgung mit Sauerstoff und Mikronährstoff mangelhaft ist. Muskelabbau, Kraftverlust, Sensibilitäts- und Koordinationsstörungen sind die Folge.
Die Schwäche schreitet weiter fort, erschwert die Bewältigung des Alltags und macht einfachste Verrichtungen zum Problem. Ich gehe fast nicht mehr aus dem Haus und bin gezwungen, ständig Halt zu suchen. Bewegungsmangel fördert den weiteren Muskelabbau und die Gelenke beginnen mangels ausreichender Unterstützung zu schmerzen. Die Intensität der Symptomatik schwankt; an manchen Tagen kann ich mich kaum auf den Beinen halten. Das damit verbundene Sturzrisiko stellt eine große Gefahr dar. Knochenbrüche könnten zur völligen Immobilität mit unabsehbaren Folgen führen.
Weitere unerfreuliche Symptome haben neuerdings zum Verdacht auf Morbus Parkinson geführt.
Der weitere Weg könnte schwierig werden!
Ich schreibe diese Zeilen nicht, um mein Schicksal zu beklagen, sondern vielmehr, um meine Wertvorstellungen - vor allem zum Thema Selbstbestimmung - zu schildern, die im Übrigen auch von meiner Frau uneingeschränkt vertreten werden.
Ich bin 85, habe ein erfülltes Leben hinter mir und akzeptiere meine Endlichkeit. Aber ein Mindestmaß an Lebensqualität und der Erhalt der Selbstbestimmung haben für mich absolute Priorität und sind mir deutlich wichtiger als weitere lange Lebensdauer. Deshalb wehre ich mich dagegen, den weiteren "natürlichen Ablauf" schicksalsergeben hinzunehmen.
Die Natur betreibt einen unvorstellbaren Aufwand, um neues Leben zu schaffen, aber sie hat keine Vorsorge getroffen, um das "gelebte" Leben würdig zu beenden. Das Individuum verliert nach Erfüllung seiner biologischen Aufgabe seine Bedeutung und wird - von Ausnahmen abgesehen - gnadenlos dem Verfall preisgegeben.
Fakten
Die moderne Medizin erbringt große Leistungen, indem sie auftretende Krankheiten bekämpft und unsere Lebensspanne verlängert. Die bittere Kehrseite ist, dass im Alter Krankheiten auftreten, die man früher überhaupt nicht kannte. Der Verfall wird zeitlich verschoben, aber nicht vermieden, u.U. sogar verlängert.
Die Zahl der pflegebedürftigen Senioren steigt dramatisch an, während qualifiziertes Pflegepersonal bereits heute knapp und unterbezahlt ist. Die Kosten werden ins Unermessliche steigen, die Pflege wird weiter an Qualität verlieren.
Die Zahl der Suizide unter den Älteren steigt deutlich. 2013 wurden in Deutschland ca 10.000 Suizide registriert, der Anteil der über 60jährigen betrug 45%, wobei der Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung bei 25% liegt. Da es eine hohe Dunkelziffer gibt, dürfte der effektive Anteil noch höher liegen, ebenso die Zahl der missglückten Versuche.
Ich vermisse im Internet ein seriöses Forum zum Thema Suizid, welches vielen Gefährdeten die Möglichkeit bieten würde, sich auszutauschen und damit Rat und Erleichterung zu finden. Es wäre eine wirksame Form von Suizid - Prävention.
Das Grundrecht des Menschen auf Selbstbestimmung führt zwangsläufig zum Thema Sterbehilfe. Jeder Mensch sollte für sich das Recht haben, zu entscheiden, wann und wie er sein Leben beenden will, egal aus welchen Gründen. Niemand soll zum Sterben gedrängt, aber auch nicht zum Leben gezwungen werden
Es ist für mich unverständlich, warum Gesellschaft, Staat und Kirche dem Thema Sterbehilfe so restriktiv gegenübersehen. Ich sehe in dem Bekenntnis zur Sterbehilfe einen hohen ethischen Wert, weil sie vielen Menschen unendliches Leid ersparen würde. Viele Ärzte in Deutschland wären zu einer Freitodbegleitung bereit, wenn ihre Standesorganisation es nicht verbieten würde.
Die Bundesregierung will bis Ende 2015 ein Gesetz verabschieden, welches die Rechtslage zum Thema Sterbehilfe neu regelt. Innerhalb der Parteien gibt es sehr unterschiedliche Positionen und auch in der Öffentlichkeit wird es kontrovers diskutiert.
In den letzten Wochen wurden vermehrt kritische Stimmen gegen das im Herbst möglicherweise kommende Verbot der organisierten Sterbehilfe laut.
So haben sich über 140 renommierte Strafrechtler in einer gemeinsamen Resolution gegen das geplante Verbot des assistierten Suizids ausgesprochen. Die Resolution darf als Zeichen dafür gewertet werden, dass das von vielen Bundestagsabgeordneten befürwortete "Verbot der organisierten Sterbehilfe" vor dem Bundesverfassungsgericht wohl keinen Bestand haben würde.
Anlässlich des 118. Deutschen Ärztetags in Frankfurt ( 12.05.) appellieren deutsche Ärztinnen und Ärzte an den Ärztestand in einem Offenen Brief, Äußerungen des Präsidenten Frank Ulrich Montgomery nicht mehr hinzunehmen und für die Sache der Patienten einzutreten.
Weitere Medienberichte sind hier zu finden:
"Das Verbot der Sterbehilfe wäre ein Rückschritt" (Die Welt):
"Positive Kultur des Sterbens" (taz-Interview mit BGH-Richter Thomas Fischer):
http://www.taz.de/!158643/
Scobels Buchempfehlung "Letzte Hilfe" (3sat):
Auch die Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben, die Giordano Bruno Stiftung und selbst
Dignitas weisen auf ihrer Homepage auf diese Entwicklung hin.
Mein persönliches Fazit:
Ab einem bestimmten Stadium des Verfalls erscheint mir das Leben nicht mehr lebenswert. Dies kann durch Schmerzen, Atemnot, Immobilität, Perspektivlosigkeit und Verlust der Selbstbestimmung bzw. der Partnerschaft bedingt sein.
Die Vorstellung, in Windeln und mit Magensonde, in einem Milieu der Hoffnungslosigkeit dahin zu vegetieren, ist unerträglich. Ebenso unvorstellbar ist es, den Verfall der Persönlichkeit durch Demenz durchleben zu müssen.
Ich werde versuchen, alles zu tun, um ein solches Stadium zu vermeiden.
Lieber selbstbestimmt sterben als fremdbestimmt leben.
Ethische oder religiöse Gegenargumente kann ich für mich nicht erkennen.
Selbst Hans Küng, der bekannte Religionswissenschaftler und gläubige Christ hat sich nach Diagnose einer degenerativen Erkrankung bei Exit angemeldet und betont:
"Ich nehme die Verantwortung wahr für mein Sterben zur rechten Zeit, eine Verantwortung,
die mir niemand abnehmen kann".
Ein Suizid in Eigenregie ist für mich nicht vorstellbar, solange andere Optionen zur Verfügung stehen. Er ist riskant, teils brutal in der Methode und rücksichtslos, wenn er in der Öffentlichkeit stattfindet, wo u.U. andere Menschen mit einbezogen werden können.
Die Sterbehilfe - Organisationen in der Schweiz bieten eine zuverlässige, professionelle Freitodbegleitung mit Erledigung aller bürokratischen Begleitmaßnahmen incl. Kremation. Die Tatsache, dass dies gegen Bezahlung erfolgt, finde ich angemessen, denn es wird eine verantwortungsvolle Dienstleistung erbracht, die ich mir ja wünsche. Der Gedanke, zu einer letzten Reise dorthin aufzubrechen, evtl. den Partner dorthin begleiten zu müssen, ist allerdings schwer vorstellbar, wäre unter gewissen Umständen jedoch als "ultima Ratio" denkbar. Schweres Leid kann viele Hürden überwinden.
Ich wünsche mir vor allem eine Lockerung der Restriktionen hinsichtlich der ärztlichen Beihilfe zum Suizid. Eine Umfrage hat gezeigt, dass immerhin mehr als ein Drittel (37%) der befragten Ärzte bereit wäre, bei einem Suizid Hilfe zu leisten. Dies verstößt jedoch gegen die ärztlichen Standesrichtlinien und der Arzt riskiert den Verlust seiner Approbation.
Große Hoffnung setze ich auch auf den weiteren Ausbau der Palliativmedizin, die das letzte Stadium durch eine effektive Schmerztherapie und andere Maßnahmen erträglich machen kann. Der Sterbevorgang kann durch Überdosierung der Sedierung und andere Maßnahmen beschleunigt werden, sodass die Grenze zwischen passiver Sterbehilfe und palliativen Maßnahmen fließend ist. Durch die Einführung der "Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung" (SAPV) wurde die Möglichkeit geschaffen, unnötige Krankenhauseinweisungen zu vermeiden und den Wunsch der allermeisten Menschen, zu Hause zu sterben, realisierbar zu machen.
Eine praktikable Methode sehe ich auch im Verzicht auf Essen und Trinken als Kombination von selbstbestimmtem und natürlichem Sterben, die auch zuhause durchgeführt werden kann.
Das Thema Sterben ist in der heutigen Gesellschaft tabu, obwohl es untrennbar zum Leben gehört. Ein Mensch, der ein Leben lang geplant und Verantwortung übernommen hat, sollte auch sein Ableben in dieses Konzept mit einbeziehen. Die Bereitschaft, Eigenverantwortung zu übernehmen und einem drohenden Verfall aktiv entgegenzuwirken, erfordert klare Wertvorstellungen, Information und Disziplin.
Konkrete Maßnahmen hierfür sind Testament, Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht,
Ersatzvollmacht, Bankvollmacht, Willensverfügung zur Organentnahme und Bestattungsvorsorge - Vertrag.
Zusammenfassend möchte ich dafür plädieren, das Unvermeidliche nicht völlig passiv hinzunehmen, sondern sich bewusst zu machen, dass auch das Lebensende innerhalb gewisser Grenzen gestaltbar ist und damit möglicherweise viel Leid und Elend vermieden werden kann. Es bleibt durchaus offen, ob diese Möglichkeit dann auch genutzt wird, aber das Wissen um die Realisierbarkeit bringt Erleichterung und fördert die Gelassenheit für die restliche Lebenszeit.
Nachtrag
Für unsere Kinder habe ich Gedanken zu Alter, Selbstbestimmung und Sterben, sowie Informationen über Sterbehilfe und Organisationen schriftlich formuliert und in einer Art "Altersbilanz" weitere Themen einbezogen, über die im Alltag (zu) wenig gesprochen wird. Dazu gehören Glaube und Religion, Gesellschaft und Moral, aber auch Lob und Anerkennung.
Dieses Buch trägt den Titel:
Der Weg ins Ungewisse - Selbstbestimmung im Alter
und endet mit den Worten:Wir wünschen uns, dass Ihr unsere Gedanken als eine Art Vermächtnis betrachtet.
Es sollte hilfreich sein, Eure Eltern besser zu verstehen,
wenn sie versuchen, ihre Wertvorstellungen zu realisieren.
Es sollte nützlich sein für den Fall,
dass Ihr als Ersatzbevollmächtigte aktiv werden müsstet.
Es sollte Euch den Abschied erleichtern,
wenn unser Lebensweg zu Ende geht.
Es sollte hilfreich sein, Eure Eltern besser zu verstehen,
wenn sie versuchen, ihre Wertvorstellungen zu realisieren.
Es sollte nützlich sein für den Fall,
dass Ihr als Ersatzbevollmächtigte aktiv werden müsstet.
Es sollte Euch den Abschied erleichtern,
wenn unser Lebensweg zu Ende geht.
Kommentar