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    Reisefieber

    Hallo: -
    Urlaubs- und Reisezeit. Der gute Ratgeber, der Bob Leibowitz für Prostatakrebs mir geworden ist, das ist George Orwell für mich, wenn ich auf Reisen bin und in Restaurants gehe oder in Hotels übernachten muss. George Orwells Beobachtungen und Ratschläge sind mir immer präsent, und das heisst, ich gehe nie in "gute" Restaurants essen, ich bestelle nie Suppen und ich habe immer ein Säckchen weissen Pfeffer bei mir, wenn ich irgendwo übernachten muss.

    Es gibt drei Klassen von Schriftstellern. Ganz unten sind die Schreiber von Unterhaltungs-, Liebes- und Kriminalromanen. Zweiter Klasse sind Schriftsteller, die ihr Talent in den Dienst der herrschenden Klasse stellen und dadurch bereits zu Lebzeiten "Erfolg" haben. Hierzu zähle ich z.B. Rudyard Kipling, Anna Seghers und Günter Grass, dessen moralisierende Schriften ich einfach nur hässlich finde.
    George Orwell hingegen hat sich immer eine kritische, unabhängige Meinung gebildet, hat immer gegen den Strom der Zeit geschrieben. In "Burmese Days" weckt er Zweifel am Britischen Imperialismus. Als ganz England Onkel Joe (Stalin) hoffierte, schrieb er "Homage to Catalonia", wo er seine Erlebnisse im Spanischen Bürgerkrieg und sein Entsetzen über die Entartung einer guten Idee zum Stalinismus schildert. Ohne diese Erfahrung hätte er "1984" nie schreiben können. Schliesslich schildert er in "Down and Out in Paris and London" seine Erlebnisse als mittelloser Wandersmann in England und als Küchenhelfer (plongeur) im Pariser Nobelhotel X nahe des Place de la Concorde. Letzteres könnte eine gute zusätzliche Lektüre zu Karl Marx, 1. Band sein, und natürlich wollte man in den feineren englischen Kreisen solche Geschichten nicht lesen und hat seine Bücher auch nicht gekauft.

    In " Down and Out in Paris and London" schildert Orwell, wie es auf der anderen Seite der Drehtür zugeht, welche den Speisesaal von der Küche trennt: Der smarte italienische 1. Kellner beschimpft den Lehrling als Hurensohn und bewegt sich mit unflätigen Worten und Geräuschen in Richtung Speisesaal. Nun erfolgt eine wundersame Wandlung. "Dann betritt er den Speisesaal, Gericht in der Hand, durchquert ihn leichtfüssig und graziös wie ein Schwan. Zehn Sekunden später verbeugt er sich ehrerbietig vor dem Gast. Und man kann nicht umhin zu glauben, wie er sich so verbeugte und lächelte, dieses wohlgesonnene Lächeln des Kellners, dass der Gast sich beschämt fühlen müsste, von einem solchen Edelmann bedient zu werden".
    In der Küche viel Schmutz. "Es ist keine Redensart", schreibt Orwell, "sondern eine Tatsache, dass in französischen Restaurants die Köche in die Suppe spucken (sofern sie sie nicht selbst essen). Er ist ein Künstler, aber kein Künstler der Appetitlichkeit. Wenn dem Chefkoch z.B. ein Steak gebracht wird zur Kontrolle, benutzt er keine Gabel. Er nimmt es mit den Fingern, klappst es auf den Tisch, fährt mit dem Daumen drauf herum, leckt daran, um die Sosse zu kosten, dreht es herum und leckt nochmals, tritt zurück, betrachtet das Fleischstück wie ein Künstler sein Bild und drückt es dann liebevoll mit seinen fettigen, rosaroten Fingern auf den Teller, mit Fingern, die er an diesem Tag schon hundert Mal beleckt hat. Wenn er danit fertig ist, nimmt er ein Tuch, wischt die Fingerflecke vom Teller und übergibt das Gericht dem Kellner zum Austragen. Und der Kellner, natürlich, berührt seinerseits die Sosse mit Fingern, schmierige, hässliche Finger, mit denen er sich vorher durch die pomadierten Haare gefahren ist. Wann immer man in Paris mehr als zehn Francs für ein Gericht bezahlt, kann man sicher sein, dass das Gericht in dieser Weise behandelt worden ist. Grob gesagt: je mehr man für ein Gericht bezahlt, desto mehr Schweiss und Spucke ist man gezwungen mitzuessen." (von mir übersetzt)

    Da ich nur ungern in Gesellschaften reise, kann es vorkommen, dass ich in Hotels übernachten muss, die ich nicht kenne, die kein Reiseleiter vorab erkundet hat, und wer kennt nicht die Not, nach langer Tagesfahrt auf der Autobahn bei anbrechender Dunkelheit noch ein Zimmer finden zu müssen. Da habe ich dann nach Irrfahrt in den französischen Innenstädten manches Mal in einer dunklen Seitenstrasse wie der von George Orwell beschriebenen rue du Coq d'Or noch ein Hotel gefunden und gesagt: "Madame, je cherche une chambre pour la nuit". Diese Formulierung empfiehlt sich, um auszuschliessen, dass man ein Zimmer nur für eine Stunde sucht, was in französischen Hotels auch möglich ist. Da man nie weiss, wer in den Betten vorher geschlafen hat, treffe ich auch Vorkehrungen gegen Wanzen. Diese halten sich, wenn vorhanden, in den Matratzen auf, und man kann sie nachts von sich fernhalten, wenn man unter das Bettlaken Pfeffer streut. Wanzen lieben keinen Pfeffer, schreibt Orwell.

    Gute Reise! Reinardo

    PS. das Vorkommen von Wanzen in Hotels, insbes. in südlichen Ländern, wird oft schamvoll verschwiegen. Eine mit mir verwandte gutbürgerliche ehrbare Familie hat anlässlich einer Pilgerfahrt nach Israel dort in einem "guten" Hotel sich Wanzen eingefangen und in ihre Frankfurter Wohnung verschleppt.

    #2
    IIIIHhh gitt, pfui

    Kommentar


      #3
      Hallo lieber Reinardo,
      Dein neuer Beitrag ist wieder ein echter „Reinardo“. Meine Frau war begeistert von Deinem Hinweis mit dem weißen Pfeffer und wird ein Beutelchen als festen Bestandteil in Ihrer Reiseapotheke aufnehmen.
      Ich kann Dir aber auch einen Tipp geben, wie und wo man auch seine Suppe und ein gutes (teures) Menu mit Appetit essen kann, indem man Restaurants auswählt mit offener Küche oder die Küche getrennt durch große Glaswand gut einsehbar vom Restaurant. Du siehst, auch Küchenchefs haben Orwell gelesen und dazu gelernt.
      Herzliche Grüße aus Kalifornien
      Knut.

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