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Philip Roth, Exit Ghost: Prostatakrebs und Weltliteratur

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    Philip Roth, Exit Ghost: Prostatakrebs und Weltliteratur

    Liebe Forumsfreunde,

    Meine Literaturempfehlung:

    Philip Roth,
    Exit Ghost,

    Philip Roth, der langjährige Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis überraschte letztes Jahr noch mal mit seinem Alterswerk.
    Das machte mich neugierig: Erstmals erzählt Weltliteratur im Eingangskapitel über einen Mann mit Prostatakrebs, (das Alter Ego des Autors, Nathan Zuckermann), der sich ungeniert über sich berichtet und nach 11 Jahren des Rückzugs wieder in das Leben eintaucht.
    Damit wird in der Literatur bei einem schambesetzten Männerthema erster Ordnung ein Tabu gebrochen.

    Seinem vorherigen Roman „Jedermann“, der das Altern zum Gegenstand hatte, enthielt den viel zitierten Schlüsselsatz

    "Das Alter ist ein Massaker".

    Daran scheint der neue Roman am Beispiel des alternden Mannes mit Prostatakrebs anzuknüpfen zu wollen, gleichwohl gehen humorvoller Zynismus und Freude an der Erotik nicht verloren.

    Im Unklaren gelassen wird der Leser, warum ausgerechnet ein Mann mit dem vitalen Elan der literarischen Figur Nathan Zuckermann so wenig Widerstand gegen diese Variante des

    „Massakers des Alters“

    aufgebracht hat. Ist das „Schicksal“ der totalen Inkontinenz wirklich unabwendbar?
    Seine Art des Widerstands ist die nachträgliche Entscheidung, sich wieder in das Leben hinein zu stürzen. Zum mündigen Patienten kann man auch nachträglich noch werden. Und das ermutigt.

    Viele Grüße aus Bremen

    Udo

    Im nachfolgenden Beitrag:
    Gekürzte Auszüge aus dem Beginn des Romans
    Quelle:
    http://www.amazon.de/gp/reader/3446230017/ref=sib_rdr_prev2_ex9?ie=UTF8&p=S00A&j=1&ns=1#reader-page

    #2
    Philip Roth, Exit Ghost: Prostatakrebs und Weltliteratur

    Philip Roth,
    Exit Ghost

    Gekürzte Auszüge aus dem Beginn des Romans

    Der gegenwärtige Augenblick

    Ich war seit elf Jahren nicht mehr in N… gewesen. Abgesehen von einem Aufenthalt in B..., wo man mir die von Krebs befallene Prostata entfernt hatte, war ich in diesen elf Jahren kaum je anderswo unterwegs gewesen als auf der kleinen Landstraße in den hügeligen B..., und überdies hatte ich seit dem Attentat vom 11. September drei Jahre zuvor nur selten eine Zeitung gelesen oder eine Nachrichtensendung gesehen; ohne ein Gefühl des Verlustes - es war anfangs lediglich eine Art innerer Dürre gewesen - hatte ich aufgehört, ein Bewohner der großen Welt oder auch nur des gegenwärtigen Augenblicks zu sein. Den Impuls, in dieser Welt zu sein und zu ihr zu gehören, hatte ich längst abgetötet.

    Doch nun war ich die zweihundert Kilometer nach Süden, nach M..., gefahren, um einen Urologen am M... Hospital aufzusuchen, der sich auf eine Methode zur Behandlung jener Tausende von Männern spezialisiert hatte, die, wie ich, nach einer Prostataoperation inkontinent waren. Er führte einen Katheter in die Harnröhre ein und injizierte am Blasenmund Kollagen in gelatiner Form, wodurch er bei etwa …zig Prozent seiner Patienten eine signifikante Besserung des Zustands erreichte. Die Chancen standen nicht überwältigend gut, zumal »signifikante Besserung« lediglich eine teilweise Linderung der Symptome bedeutete: aus »schwerer Inkontinenz« konnte »moderate Inkontinenz« werden, aus »moderater« möglicherweise eine »leichte«. Doch weil seine Resultate besser waren als die anderer Urologen, die so ziemlich dieselbe Technik anwendeten (an der zweiten möglichen Folge einer radikalen Prostatektomie - Impotenz infolge einer Schädigung des Nervengewebes - , von der verschont zu werden mir, wie Zehntausenden von Männern, nicht vergönnt gewesen war, ließ sich ohnehin nichts ändern), fuhr ich zu einer Konsultation nach N…, obgleich ich mir seit langem einbildete, mich mit den praktischen Widrigkeiten dieses Zustands abgefunden zu haben.

    In den Jahren seit der Operation hatte ich sogar geglaubt, die Beschämung über die Tatsache, dass ich mir in die Hose pinkelte, überwunden zu haben, den verwirrenden Schock, der in den ersten eineinhalb Jahren besonders groß gewesen war, in jenen Monaten nämlich, als der behandelnde Arzt mir Hoffnungen gemacht hatte, diese Unannehmlichkeit werde im Lauf der Zeit langsam verschwinden, wie es bei einigen wenigen glücklichen Patienten der Fall ist. Doch obwohl die Maßnahmen, die ich traf, um sauber und geruchsfrei zu bleiben, zur täglichen Routine geworden waren, hatte ich mich anscheinend nie wirklich daran gewöhnt, besondere Unterhosen zu tragen, die Einlagen zu wechseln und mit den wiederkehrenden »Malheurs« fertig zu werden, ebenso wenig wie es mir gelungen war, die damit verbundene Erniedrigung hinzunehmen, denn da war ich nun, einundsiebzig Jahre alt, zurück in der U... von M..., nur ein paar Blocks von der Gegend entfernt, wo ich als tatkräftiger, gesunder jüngerer Mann gelebt hatte, und saß im Empfangsbereich der urologischen Abteilung des M... Hospital, wo man mir in Kürze versichern würde, dass ich, sofern es gelang, das Kollagen dauerhaft am Blasenmund zu befestigen, Chancen hatte, meinen Harnfluss ein wenig besser unter Kontrolle zu halten als ein Kleinkind. Ich saß da, stellte mir die Prozedur vor, blätterte in den Stapeln von P... und N... und dachte: Völlig sinnlos. Geh raus und fahr nach Hause.

    In den vergangenen elf Jahren hatte ich allein in einem kleinen Haus an einem Feldweg in der hintersten Provinz gelebt… Den größten Teil des Tages und oft auch des Abends verbringe ich mit Schreiben, Ich lese viel, hauptsächlich die Bücher, die ich als Student entdeckt habe, die Meisterwerke der Literatur, die mich heute nicht weniger und in einigen Fällen sogar mehr faszinieren als bei meinen allerersten erregenden Begegnungen mit ihnen. …

    Ich höre Musik, ich wandere in den Wäldern, und wenn es heiß ist, schwimme ich in meinem Teich, dessen Wasser selbst im Sommer nie wärmer wird als knapp über zwanzig Grad. Ich schwimme nackt, denn dort kann mich nie*mand sehen, und das bedeutet, dass ich, wenn ich eine blasse, schlierige Urinwolke hinter mir herziehe, die das Wasser des Teichs wahrnehmbar verfärbt, weitgehend gelassen bin und mir die Peinlichkeit erspart bleibt, die mich gewiss zu Boden drücken würde, sollte meine Blase sich gegen meinen Willen in einem öffentlichen Schwimmbad entleeren. Für inkontinente Schwimmer gibt es Plastikunterhosen mit starken Gummizügen, die, wie die Werbung verspricht, wasserdicht sind, doch als ich mir, nach langem inneren Hin und Her, eine solche Hose von einem Hersteller für Swimmingpool-Zubehör hatte kommen lassen und im Teich ausprobierte, stellte ich fest, dass das Tragen dieser eher großen weißen Dinger unter der Badehose das Problem zwar verringerte, jedoch nicht in ausreichendem Maße, um meine Befangenheit zu überwinden. Anstatt das Risiko einzugehen, mich bloßzustellen und Anstoß zu erregen, gab ich den Gedanken auf, während des größten Teils des Jahres regelmäßig (und in Unter- und Badehose) im Schwimmbad des örtlichen C... zu schwimmen, und fand mich damit ab, in den wenigen Monaten, in denen es in den B... warm genug ist und ich, bei gutem wie schlechtem Wetter, täglich eine halbe Stunde schwimme, zuweilen das Wasser meines eigenen Teichs zu verunreinigen.

    Ein paar mal pro Woche verlasse ich meinen Hügel und fahre hinunter ins zwölf Kilometer entfernte A… zum Supermarkt oder zur Reinigung; gelegentlich gehe ich etwas essen, kaufe ein Paar Socken oder eine Flasche Wein, benutze die C…-Bibliothek, Nach T… ist es nicht weit, und im Sommer fahre ich etwa zehnmal dorthin, um ein Konzert zu hören. Ich gebe keine Lesungen, ich halte keine Vorträge, ich unterrichte nicht, ich trete nicht im Fernsehen auf. Wenn meine Bücher erscheinen, bleibe ich zu Hause, Ich schreibe jeden Tag, im übrigen schweige ich. Der Gedanke, nichts mehr zu veröffentlichen, erscheint mir verführerisch: Ist das, was ich brauche, nicht das Arbeiten und Überarbeiten? Was spielt es denn noch für eine Rolle, ob ich inkontinent und impotent bin?...


    Quelle:

    http://www.amazon.de/gp/reader/3446230017/ref=sib_rdr_prev2_ex9?ie=UTF8&p=S00A&j=1&ns=1#reader-page

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