Hallo:-
Heute, am 19. Februar 2012, habe ich das 80. Lebensjahr vollendet.
80 Jahre sind eine lange Zeit.
Meine Großeltern haben mir noch vom Krieg 1870/71 erzählt, als bei Kriegsende die Kirchenglocken läuteten, die Menschen ihre Feldarbeit unterbrachen, niederknieten und Gott für das Ende des Krieges und für den Sieg über Frankreich dankten. Auf einem Flohmarkt in Spanien konnte ich ein Bild mit eben diesem Motiv erwerben.
15 Jahre lang hatte mein Vater auf dem Dachboden unseres Hauses seine Pistole aus dem 1. Weltkrieg versteckt. Als ich sie als kleiner Junge beim Herumstöbern fand, war sie gänzlich verrostet und unbrauchbar geworden. Ein Bruder meines Vaters ist 1914 in Frankreich gefallen. Ich besitze noch eine Postkarte von ihm aus Cottbus, in welcher er uns seine Befürchtung mitteilt, dass vor Beendigung seiner Rekrutenzeit der Krieg schon vorbei sein könne.
Von der Zeit des Hungers während und nach dem Weltkrieg hat mir meine Mutter erzählt. Ihr, die ohne Vater in einer Kellerwohnung aufgewachsen war, hat man bei ihrer Konfirmation das Gesangbuch gestohlen. Da hat sie den Glauben an Gott verloren.
In den 30er Jahren lagen auf unserem Dachboden noch die Kartons mit dem Inflationsgeld. Viele Millionen Reichsmark. Das waren einzelne Scheine, für die man, wenn es reichte, Brot kaufen konnte..
1933, als ich 1 Jahr alt war, wurde meinem Vater aus politischen Gründen die Arbeitsstelle gekündigt und er war 4 Jahre lang arbeitslos. Das war für uns eine Zeit großer Not, und ich musste oft mit meinen Eltern in den Wald, Pilze sammeln, die mein Vater dann versuchte in Gaststätten zu verkaufen. Meine Mutter musste eine Arbeit in der Hutfabrik annehmen. Dass die Frau mitarbeiten musste, war nicht üblich, war ein Zeichen von Armut und galt als ein Makel.
Im Februar 1945, als wir schon den Geschützdonner der Front hörten, sind meine Mutter und ich aus unserer Heimatstadt Guben mit einem voll gepackten Leiterwagen vor Ankunft der Russen geflüchtet. Ein Kaninchen, das wir im Stall hatten, habe ich noch geschlachtet. Dabei habe ich bemerkt, dass es trächtig war. Die Erinnerung hieran belastet mich noch heute, und ich habe in meinem ganzen Leben nie wieder ein Tier geschlachtet. Wir haben mehrere Nächte mit vielen anderen Flüchtlingen in Turn- und Tanzsälen auf Stroh geschlafen und es war sehr kalt. Ich weiß noch, dass ich meiner Mutter sagte, ich würde mir ein Zimmer wünschen, nur für uns zwei und einen Bullerofen darin.
Bei Kriegsende waren wir bei einer Schwester meines Vaters in Bad Eilsen untergekommen, die uns fürsorglich aufgenommen hatte. Der Ort Bad Eilsen war im Kriege nicht zerstört worden, weil die Engländer ihn als ihr Hauptquartier für ihre Besatzungstruppen erhalten wollten.
Eines Tages mussten alle Bewohner des Ortes im Kurpark sich versammeln und Bilder von deutschen Konzentrationslagern mit toten oder sterbenden Juden sich ansehen. Meine Mutter war eine aufrechte und mutige Frau, die das nicht glaubte. Als sie protestierte und sich weigerte, wurde sie von einem englischen Militärpolizisten mit angelegter Maschinenpistole gezwungen, weiterzugehen. Ich hatte Angst um meine Mutter.
Dann kam der Tag, als ohne Ankündigung mein Vater in einer abgetragenen Uniform vor dem Haus stand. Man hatte ihn aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Wenn Soldaten einer besiegten Armee zurückkommen, dann stimmt das traurig, und ich denke an diese Rückkehr meines Vaters, wenn ich in den Geschichtsbüchern die Bilder sehe, in welch klagenswertem Zustand Napoleons in Russland besiegte Soldaten in Preußen eintrafen, um nach Frankreich weiter zu ziehen.
In dieser frühen Nachkriegszeit habe ich für meinen Vater in den englischen Quartieren und auf den Strassen Zigaretten-Kippen gesammelt. Meine Mutter bekam Arbeit in einer englischen Küche und hat uns mit übrig gebliebenen Essensresten versorgt. Ich habe aber auch begonnen, Englisch zu lernen. Eine Frau gab mir und anderen Jugendlichen Unterricht. Sie tat dies umsonst, nahm aber gerne auch Lebensmittel. Ich weiß nicht mehr, was wir bei ihr gelernt haben, erinnere mich nur noch an Nursery Rhymes und die Geschichte von Humpty Dumpty.
In den Wäldern lagerten große Mengen von der Wehrmacht zurückgelassener Granaten. Meine Freunde und ich haben viele Granaten an den Hülsen aufgeschlagen und die Pulverstangen herausgeholt, um damit Feuer zu machen und zu spielen. Das war nicht gefährlich, wenn man es richtig machte. Aber Erwachsene durften es nicht sehen.
Ich hatte während des Krieges schlechte Lehrer gehabt und meine Leistungen waren nur ausreichend gewesen. Erst 1947 lernte ich auf der Handelsschule gute Lehrer kennen, die mich förderten und mir beibrachten, selbständig und unabhängig zu denken. Ich merkte zum ersten Mal, dass ich intelligent war und wurde schließlich Primus der Klasse. Ich bestand die Reifeprüfung mit einem mündlichen Referat über Albert Camus’ Novelle „Die Pest“ und einer schriftlichen Arbeit über die Verstaatlichung des englischen Kohlebergbaus.
In schlechter Erinnerung ist mir meine zweijährige Lehrzeit als Industriekaufmann in einer Maschinenfabrik in Hannover geblieben Auf der Handelschule war ich gut ausgebildet worden. So wurde ich vielseitig und vollwertig eingesetzt und fühlte mich ausgenutzt. Ich musste unentgeltlich fast jeden Tag im Büro Überstunden leisten. Vom Berufsschulunterricht war ich befreit. Meine Vergütung betrug 100 DM im ersten und 120 DM im zweiten Lehrjahr. Davon musste ich 45 DM für mein Zimmer und 15 DM Fahrtkosten bezahlen. Weihnachtsgeld haben Lehrlinge nicht bekommen. Wochentags habe ich nur von Vollkornbrot mit Tafel-Margarine und Schichtkäse gelebt. Nur am Wochenende habe ich in einem Fischrestaurant eine warme Mahlzeit gegessen. In diesen zwei Jahren habe ich oft richtig gehungert. Drei Monate vor Ende der Lehrzeit habe ich vertragsgemäß gekündigt und meinem Lehrherrn im Berichtsheft den Unwert meiner Lehre attestiert. Die Handelskammerprüfung habe ich aber trotzdem mit „gut“ bestanden.
In meiner ersten Arbeitsstelle als Sachbearbeiter in der Dependance einer französischen Firma in Köln habe ich am Anfang 263,00 DM verdient. Das erscheint heute wenig, war aber der Durchschnittslohn eines Facharbeiters. Ich konnte in den folgenden Jahren sogar gut Geld für mein Studium sparen.
Es folgten Jahre des Studiums in Köln und Berlin. Und Jahrzehnte der Berufstätigkeit in Deutschland und in Montreal, Kanada. Dort habe ich auch 1 Jahr lang an der McGill Universität studiert und parallel an einem College unterrichtet.
Die Diagnose Prostatakrebs bekam ich im November 2001, als ich schon Rentner war. Ich hatte Hackethal gelesen und verdanke ihm meine kritische Grundeinstellung zur Urologie und meine Zweifel an der Richtigkeit der von der Urologie angebotenen Therapien. Die von mir gewählte Dreifache Hormonblockade von Bob Leibowitz schien mir wie ein Rettungsanker vor der mit Risiken und Nebenwirkungen behafteten und mir dringend angeratenen Operation. Ich glaube noch heute, dass es die richtige Entscheidung war. Jimmy Hartwig hat einmal gesagt: „Diese verdammte Krankheit wird mich nicht vorzeitig unter die Erde bringen“. Das Wort gilt auch für mich.
Wenn man das 80. Lebensjahr erreicht hat, dann hat man eine Ziellinie überschritten. Ich bin mit Prostatakrebs alt geworden Der Tod, der wohl irgendwann bald kommen wird, wie auch immer, kann mein Leben nicht mehr zerstören. Er kann es nur noch beenden.
Wenn ich nun heute auf mein Leben und die vielen überstandenen Gefahren zurückblicke, kann ich aber doch zufrieden sagen: Gut durchgekommen.
Reinardo
Heute, am 19. Februar 2012, habe ich das 80. Lebensjahr vollendet.
80 Jahre sind eine lange Zeit.
Meine Großeltern haben mir noch vom Krieg 1870/71 erzählt, als bei Kriegsende die Kirchenglocken läuteten, die Menschen ihre Feldarbeit unterbrachen, niederknieten und Gott für das Ende des Krieges und für den Sieg über Frankreich dankten. Auf einem Flohmarkt in Spanien konnte ich ein Bild mit eben diesem Motiv erwerben.
15 Jahre lang hatte mein Vater auf dem Dachboden unseres Hauses seine Pistole aus dem 1. Weltkrieg versteckt. Als ich sie als kleiner Junge beim Herumstöbern fand, war sie gänzlich verrostet und unbrauchbar geworden. Ein Bruder meines Vaters ist 1914 in Frankreich gefallen. Ich besitze noch eine Postkarte von ihm aus Cottbus, in welcher er uns seine Befürchtung mitteilt, dass vor Beendigung seiner Rekrutenzeit der Krieg schon vorbei sein könne.
Von der Zeit des Hungers während und nach dem Weltkrieg hat mir meine Mutter erzählt. Ihr, die ohne Vater in einer Kellerwohnung aufgewachsen war, hat man bei ihrer Konfirmation das Gesangbuch gestohlen. Da hat sie den Glauben an Gott verloren.
In den 30er Jahren lagen auf unserem Dachboden noch die Kartons mit dem Inflationsgeld. Viele Millionen Reichsmark. Das waren einzelne Scheine, für die man, wenn es reichte, Brot kaufen konnte..
1933, als ich 1 Jahr alt war, wurde meinem Vater aus politischen Gründen die Arbeitsstelle gekündigt und er war 4 Jahre lang arbeitslos. Das war für uns eine Zeit großer Not, und ich musste oft mit meinen Eltern in den Wald, Pilze sammeln, die mein Vater dann versuchte in Gaststätten zu verkaufen. Meine Mutter musste eine Arbeit in der Hutfabrik annehmen. Dass die Frau mitarbeiten musste, war nicht üblich, war ein Zeichen von Armut und galt als ein Makel.
Im Februar 1945, als wir schon den Geschützdonner der Front hörten, sind meine Mutter und ich aus unserer Heimatstadt Guben mit einem voll gepackten Leiterwagen vor Ankunft der Russen geflüchtet. Ein Kaninchen, das wir im Stall hatten, habe ich noch geschlachtet. Dabei habe ich bemerkt, dass es trächtig war. Die Erinnerung hieran belastet mich noch heute, und ich habe in meinem ganzen Leben nie wieder ein Tier geschlachtet. Wir haben mehrere Nächte mit vielen anderen Flüchtlingen in Turn- und Tanzsälen auf Stroh geschlafen und es war sehr kalt. Ich weiß noch, dass ich meiner Mutter sagte, ich würde mir ein Zimmer wünschen, nur für uns zwei und einen Bullerofen darin.
Bei Kriegsende waren wir bei einer Schwester meines Vaters in Bad Eilsen untergekommen, die uns fürsorglich aufgenommen hatte. Der Ort Bad Eilsen war im Kriege nicht zerstört worden, weil die Engländer ihn als ihr Hauptquartier für ihre Besatzungstruppen erhalten wollten.
Eines Tages mussten alle Bewohner des Ortes im Kurpark sich versammeln und Bilder von deutschen Konzentrationslagern mit toten oder sterbenden Juden sich ansehen. Meine Mutter war eine aufrechte und mutige Frau, die das nicht glaubte. Als sie protestierte und sich weigerte, wurde sie von einem englischen Militärpolizisten mit angelegter Maschinenpistole gezwungen, weiterzugehen. Ich hatte Angst um meine Mutter.
Dann kam der Tag, als ohne Ankündigung mein Vater in einer abgetragenen Uniform vor dem Haus stand. Man hatte ihn aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Wenn Soldaten einer besiegten Armee zurückkommen, dann stimmt das traurig, und ich denke an diese Rückkehr meines Vaters, wenn ich in den Geschichtsbüchern die Bilder sehe, in welch klagenswertem Zustand Napoleons in Russland besiegte Soldaten in Preußen eintrafen, um nach Frankreich weiter zu ziehen.
In dieser frühen Nachkriegszeit habe ich für meinen Vater in den englischen Quartieren und auf den Strassen Zigaretten-Kippen gesammelt. Meine Mutter bekam Arbeit in einer englischen Küche und hat uns mit übrig gebliebenen Essensresten versorgt. Ich habe aber auch begonnen, Englisch zu lernen. Eine Frau gab mir und anderen Jugendlichen Unterricht. Sie tat dies umsonst, nahm aber gerne auch Lebensmittel. Ich weiß nicht mehr, was wir bei ihr gelernt haben, erinnere mich nur noch an Nursery Rhymes und die Geschichte von Humpty Dumpty.
In den Wäldern lagerten große Mengen von der Wehrmacht zurückgelassener Granaten. Meine Freunde und ich haben viele Granaten an den Hülsen aufgeschlagen und die Pulverstangen herausgeholt, um damit Feuer zu machen und zu spielen. Das war nicht gefährlich, wenn man es richtig machte. Aber Erwachsene durften es nicht sehen.
Ich hatte während des Krieges schlechte Lehrer gehabt und meine Leistungen waren nur ausreichend gewesen. Erst 1947 lernte ich auf der Handelsschule gute Lehrer kennen, die mich förderten und mir beibrachten, selbständig und unabhängig zu denken. Ich merkte zum ersten Mal, dass ich intelligent war und wurde schließlich Primus der Klasse. Ich bestand die Reifeprüfung mit einem mündlichen Referat über Albert Camus’ Novelle „Die Pest“ und einer schriftlichen Arbeit über die Verstaatlichung des englischen Kohlebergbaus.
In schlechter Erinnerung ist mir meine zweijährige Lehrzeit als Industriekaufmann in einer Maschinenfabrik in Hannover geblieben Auf der Handelschule war ich gut ausgebildet worden. So wurde ich vielseitig und vollwertig eingesetzt und fühlte mich ausgenutzt. Ich musste unentgeltlich fast jeden Tag im Büro Überstunden leisten. Vom Berufsschulunterricht war ich befreit. Meine Vergütung betrug 100 DM im ersten und 120 DM im zweiten Lehrjahr. Davon musste ich 45 DM für mein Zimmer und 15 DM Fahrtkosten bezahlen. Weihnachtsgeld haben Lehrlinge nicht bekommen. Wochentags habe ich nur von Vollkornbrot mit Tafel-Margarine und Schichtkäse gelebt. Nur am Wochenende habe ich in einem Fischrestaurant eine warme Mahlzeit gegessen. In diesen zwei Jahren habe ich oft richtig gehungert. Drei Monate vor Ende der Lehrzeit habe ich vertragsgemäß gekündigt und meinem Lehrherrn im Berichtsheft den Unwert meiner Lehre attestiert. Die Handelskammerprüfung habe ich aber trotzdem mit „gut“ bestanden.
In meiner ersten Arbeitsstelle als Sachbearbeiter in der Dependance einer französischen Firma in Köln habe ich am Anfang 263,00 DM verdient. Das erscheint heute wenig, war aber der Durchschnittslohn eines Facharbeiters. Ich konnte in den folgenden Jahren sogar gut Geld für mein Studium sparen.
Es folgten Jahre des Studiums in Köln und Berlin. Und Jahrzehnte der Berufstätigkeit in Deutschland und in Montreal, Kanada. Dort habe ich auch 1 Jahr lang an der McGill Universität studiert und parallel an einem College unterrichtet.
Die Diagnose Prostatakrebs bekam ich im November 2001, als ich schon Rentner war. Ich hatte Hackethal gelesen und verdanke ihm meine kritische Grundeinstellung zur Urologie und meine Zweifel an der Richtigkeit der von der Urologie angebotenen Therapien. Die von mir gewählte Dreifache Hormonblockade von Bob Leibowitz schien mir wie ein Rettungsanker vor der mit Risiken und Nebenwirkungen behafteten und mir dringend angeratenen Operation. Ich glaube noch heute, dass es die richtige Entscheidung war. Jimmy Hartwig hat einmal gesagt: „Diese verdammte Krankheit wird mich nicht vorzeitig unter die Erde bringen“. Das Wort gilt auch für mich.
Wenn man das 80. Lebensjahr erreicht hat, dann hat man eine Ziellinie überschritten. Ich bin mit Prostatakrebs alt geworden Der Tod, der wohl irgendwann bald kommen wird, wie auch immer, kann mein Leben nicht mehr zerstören. Er kann es nur noch beenden.
Wenn ich nun heute auf mein Leben und die vielen überstandenen Gefahren zurückblicke, kann ich aber doch zufrieden sagen: Gut durchgekommen.
Reinardo
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