Ich habe vom Verlag und von der Autorin das Einverständnis, dieses Kapitel hier veröffentlichen zu dürfen.
Hier der erste Teil, Fortsetzung folgt.
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Buch von Ursel Sieber:
„Gesunder Zweifel – Einsichten eines Pharmakritikers – Peter Sawicki und sein Kampf für eine unabhängige Medizin“, Berlin-Verlag, Septb.2010
Kapitel über Brachytherapie:
Seite 159
„Ein unkontrolliertes Experiment: Die Brachytherapie und die Deutsche Krankenhausgesellschaft“
(S. 159 – 176)
Georg Baum trägt kein Schild am Anzug, das ihn als solchen ausweist, doch er ist der Inbegriff eines Lobbyisten: Er ist Mitte fünfzig, hat grau meliertes Haar und wirkt einigermaßen seriös, verkauft sich gut. Er ist Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, des Dachverbands der Kliniken. Georg Baum macht seine Sache gut, so gut, dass engagierte Mitglieder im G-BA seine Rolle dort sogar als „Fluch“ bezeichnen und über das intellektuelle Niveau seiner Argumente oft die Augen verdrehen.
Baum ist längst nicht so bekannt wie die Cheflobbyistin der Pharmaindustrie, Cornelia Yzer, aber mindestens genauso erfolgreich. „Gegen die Macht der deutschen Krankenhäuser unternimmt keiner was im Ministerium“, sagt der ehemalige Abteilungsleiter Franz Knieps. „Da hat man alle gegen sich: die Klinikchefs, die Gewerkschaften, die Pfarrer, die Chefärzte, die Abgeordneten, die Lokalpolitiker – da fallen einem sogar die Leute aus der eigenen Partei in den Rücken.“ Das ist nicht zuletzt der Verdienst von Georg Baum.
Deutsche Klniken arbeiten mit dem so genannten Verbotsvorbehalt, der es ihnen erlaubt, neue Diagnose- und
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Therapieverfahren einzuführen, ohne dass sie vorher in Studien überprüft wurden. Das soll Innovationen fördern und alle Patienten schnell am technischen Fortschritt teilhaben lassen. Es fördert zugleich aber auch massiven Lobbyismus.
Wenn der Chefarzt einer Klinik ein neues Diagnose- oder Operationsverfahren für ausgereift hält, wenn Gerätehersteller und Chefarzt ein gutes Verhältnis pflegen und wenn der Verwaltungsleiter des Krankenhauses glaubt, mit dieser Neuerung die Fallzahlen steigern zu können, dann wird sie angeschafft. Die Klinik stellt einen sogenannten NUB-Antrag – einen Antrag auf eine „neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode“ -, mit den Krankenkassen wird ein Preis ausgehandelt, der noch vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) genehmigt wird – und schon ist das neue Verfahren Teil der Versorgung im Krankenhaus. Andere Kliniken ziehen nach, kaufen auch das Gerät, operieren, therapieren, und die Krankenkassen müssen die neue Behandlungsmethode bezahlen.
Peter Sawicki nennt ein solches Vorgehen ein „unkontrolliertes Experiment“ – Georg Baum nennt Sawickis Äußerungen „innovationsfeindlich“.
Am 27. März 2000 wird in der berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Frankfurt am Main einem 61-jährigen Mann mit Hilfe eines Roboters ein künstliches Kniegelenk eingesetzt. Es ist die erste Operation dieser Art. Die nächste findet ein paar Tage später statt. Doch der Roboter „Robodoc“ ist bereits länger an der Klinik im Einsatz. Vor der ersten Kniegelenkoperation hat er seit 1994 allein an
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dem Frankfurter Klinikum bereits etwa 2700 Hüftgelenke eingesetzt (Spiegel online, 27.3.200).
Mit Hilfe dieses innovativen Geräts der US-Firma Integrated Surgical Systems (ISS) Robodoc wird in Deutschland fleißig operiert – nicht nur in Frankfurt. Heute sind Hunderte von Patienten zu Krüppeln operiert, die Geräte längst entsorgt. 650 Geschädigte haben sich zu einer Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen, führen Prozesse. Manche können nur noch an Krücken gehen oder sitzen im Rollstuhl.
Der Robodoc hat ungewöhnlich häufig Nerven und Muskeln beschädigt. Der Journalist Herbert Stelz berichtet Ende 2003 im ARD-Magazin Monitor zum ersten Mal über solche Schädigungen. Die Operationen werden schließlich eingestellt.
Wie ist es möglich, dass dieses neue Verfahren in Kliniken praktisch ungeprüft in die stationäre Versorgung gelangte? Die Bewertung der „Innovationen“ beruht häufig nur auf Fallserien.
Dabei werden die Patienten nach dem Eingriff zwar beobachtet, eine Vergleichsgruppe gibt es aber nicht. Nachteile werden so häufig übersehen, Vorteile überschätzt. Nach randomisierten, kontrollierten Studien, in denen das neue Verfahren mit normalen Operationen verglichen wird, such man hingegen vergeblich. Solche Studien, die die Wirksamkeit der neuen Methode beweisen könnten, werden vom Gesetzgeber auch nicht gefordert – diese Vorschrift gibt es nur für Medikamente.
Ein anderes Problem ist, dass die neuen Verfahren über-
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all eingeführt werden können: Jede Klinik kann das Gerät anschaffen und, wenn es als „NUB“ genehmigt ist, abrechnen. Die Krankenkassen zahlen, und die Patienten erfahren nicht, wie experimentell das neue Diagnose- oder Behandlungsverfahren ist.
Zugleich mit dem „Robodoc“-Skandal landet das Thema „Verbotsvorbehalt“ am 15. März 2005 auf der Tagesordnung im G-BA. Eine neue Verfahrensordnung soll verabschiedet werden, der „Verbotsvorbehalt“ steht auf dem Prüfstand.
Peter Sawicki setzt sich vehement für eine Änderung ein. „Das Neue ist nicht per se besser, sondern wird es erst durch den Nachweis, dass es gegenüber dem Bisherigen überlegen ist“, lautet sein Argument. Er zählt eine ganze Reihe von Beispielen auf, wo Patienten geschadet wurde. Eines seiner Beispiele ist der Fall Robodoc. Aber er nennt auch Innovationen, die lange unbeachtet blieben, ein Schattendasein fristeten und trotz ihres Nutzens erst viel zu spät den Patienten zugutekamen. Auch das ist auf den Mangel an vergleichenden Studien zurückzuführen.
Sawickis Vorschlag lautet: Einige Kliniken – und die könnten sich abwechseln – bekämen ein größeres Budget und könnten sich mit solchen Forschungsprojekten einen Namen machen. „Es ist eine einmalige Chance für die deutschen Krankenhäuser, sich wissenschaftlich zu profilieren und so endlich auch der deutschen Medizin weltweit zu Anerkennung verhelfen“, wirbt Sawicki in der Sitzung.
Auch wenn die Deutsche Krankenhausgesellschaft sich gegen den Vorschlag stellt, wird sie am Ende im G-BA überstimmt – von den Vertretern der Krankenkassen und
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von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Lobbygruppe für die Interessen der niedergelassenen Ärzte. Auch Rainer Hess, der unparteiische Vorsitzende, stimmt für die Neuerung.
Der Beschluss enthält eine wegweisende Änderung: In Kliniken sollen künftig neue Maßstäbe gelten. „Innovationen“ – die auch in der ambulanten Behandlung eingesetzt werden können – dürfen künftig nicht mehr ungezügelt und unkontrolliert an allen Krankenhäusern bundesweit eingeführt werden. Patienten sollen mit den neuen Diagnose- oder Operationsverfahren zuerst nur an ausgewählten Kliniken oder Praxen im Rahmen von Studien behandelt werden – die Kosten dafür von den Krankenkassen getragen werden. Die Patienten hätten also Zugang zu neuen Behandlungsmethoden, nur nicht in allen Krankenhäusern – und sie wüsste, dass es sich noch um ein experimentelles Verfahren handelt. Die Innovation würde unter „kontrollierten Bedingungen“ eingeführt. Im Falle von Robodoc hätte eine solche Studie den Schaden viel früher sichtbar werden lassen, hätte vielen Menschen viel Leid erspart. In anderen Ländern wie der Schweiz ist es länger üblich, dass Behandlungen erst dann für alle Krankenhäuser freigegeben werden dürfen, wenn die Studien positiv ausgefallen sind.
Der Beschluss des G-BA wäre der Anfang vom Ende des Verbotsvorbehalts in Deutschland. Daher ist die Deutsche Krankenhausgesellschaft auch nicht bereit, aufzugeben. Sie wendet sich an das Bundesgesundheitsministerium und hat Erfolg: Ulla Schmidt legt ihr Veto gegen die neue Verfahrensordnung ein. Nur in Ausnahmefällen, so genannten Modellprojekten, sollen künftig neue
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Verfahren vor der flächendeckenden Einführung in Studien überprüft werden – in der Regel können die Kliniken Geräte anschaffen und einsetzen wie eh und je.
Peter Sawicki hält dieses Veto für ein „Armutszeugnis“ der Politik, für ein Einknicken vor Partikularinteressen. Noch heute ärgert er sich, dass Ulla Schmidt zurückgewichen ist, und wirft ihr Ideenlosigkeit und mangelnden Gestaltungswillen vor. Dem Schutz der Patienten dient das nicht, ist er sich sicher, ebenso wenig dem medizinischen Fortschritt. Sawicki will, dass Patienten schnell Zugang zu wirklichen Innovationen erhalten, doch er ist überzeugt, dass dies im Rahmen von kontrollierten Studien besser gelingen könnte.
Nicht zuletzt hätte man auch die Chance, das Gesundheitssystem weniger zu belasten und für alle bezahlbar zu halten. Die Kosten im Krankenhausbereich steigen rapide, in die Höhe getrieben durch das unglaubliche Tempo, in dem immer neue Verfahren und Geräte angeboten werden. Hier müsste man die Spreu vom Weizen trennen und so nicht nur die Ausgaben vermindern, sondern auch die bestmögliche Behandlung für den Patienten gewährleisten.
Solange die Politik eine geprüfte Einführung neuer Behandlungen im Krankenhaus nicht gesetzlich vorschreibt, wirkt sich auch der Wettbewerb unter den Krankenhäusern nachteilig auf die Kosten des Gesundheitssystems aus. Wie oft werben Kliniken mit neuen Behandlungsverfahren, mit neuen Geräten, um gegenüber anderen Kliniken zu „punkten“, um sich ins Gespräch zu bringen und „Fälle zu generieren“.
Mit einem dieser Fälle hat sich das IQWIG besonders intensiv beschäftigt. Im Dezember 2004 beauftragt der
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G-BA das IQWIG, die LDR-Brachytherapie hinsichtlich „patientenrelevanter Therapieziele“ (zum Beispiel Überlebensrate, krankheitsspezifische Überlebensrate, Nebenwirkungen wie Impotenz, Inkontinenz) zu bewerten.
Hier der erste Teil, Fortsetzung folgt.
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Buch von Ursel Sieber:
„Gesunder Zweifel – Einsichten eines Pharmakritikers – Peter Sawicki und sein Kampf für eine unabhängige Medizin“, Berlin-Verlag, Septb.2010
Kapitel über Brachytherapie:
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„Ein unkontrolliertes Experiment: Die Brachytherapie und die Deutsche Krankenhausgesellschaft“
(S. 159 – 176)
Georg Baum trägt kein Schild am Anzug, das ihn als solchen ausweist, doch er ist der Inbegriff eines Lobbyisten: Er ist Mitte fünfzig, hat grau meliertes Haar und wirkt einigermaßen seriös, verkauft sich gut. Er ist Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, des Dachverbands der Kliniken. Georg Baum macht seine Sache gut, so gut, dass engagierte Mitglieder im G-BA seine Rolle dort sogar als „Fluch“ bezeichnen und über das intellektuelle Niveau seiner Argumente oft die Augen verdrehen.
Baum ist längst nicht so bekannt wie die Cheflobbyistin der Pharmaindustrie, Cornelia Yzer, aber mindestens genauso erfolgreich. „Gegen die Macht der deutschen Krankenhäuser unternimmt keiner was im Ministerium“, sagt der ehemalige Abteilungsleiter Franz Knieps. „Da hat man alle gegen sich: die Klinikchefs, die Gewerkschaften, die Pfarrer, die Chefärzte, die Abgeordneten, die Lokalpolitiker – da fallen einem sogar die Leute aus der eigenen Partei in den Rücken.“ Das ist nicht zuletzt der Verdienst von Georg Baum.
Deutsche Klniken arbeiten mit dem so genannten Verbotsvorbehalt, der es ihnen erlaubt, neue Diagnose- und
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Therapieverfahren einzuführen, ohne dass sie vorher in Studien überprüft wurden. Das soll Innovationen fördern und alle Patienten schnell am technischen Fortschritt teilhaben lassen. Es fördert zugleich aber auch massiven Lobbyismus.
Wenn der Chefarzt einer Klinik ein neues Diagnose- oder Operationsverfahren für ausgereift hält, wenn Gerätehersteller und Chefarzt ein gutes Verhältnis pflegen und wenn der Verwaltungsleiter des Krankenhauses glaubt, mit dieser Neuerung die Fallzahlen steigern zu können, dann wird sie angeschafft. Die Klinik stellt einen sogenannten NUB-Antrag – einen Antrag auf eine „neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode“ -, mit den Krankenkassen wird ein Preis ausgehandelt, der noch vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) genehmigt wird – und schon ist das neue Verfahren Teil der Versorgung im Krankenhaus. Andere Kliniken ziehen nach, kaufen auch das Gerät, operieren, therapieren, und die Krankenkassen müssen die neue Behandlungsmethode bezahlen.
Peter Sawicki nennt ein solches Vorgehen ein „unkontrolliertes Experiment“ – Georg Baum nennt Sawickis Äußerungen „innovationsfeindlich“.
Am 27. März 2000 wird in der berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Frankfurt am Main einem 61-jährigen Mann mit Hilfe eines Roboters ein künstliches Kniegelenk eingesetzt. Es ist die erste Operation dieser Art. Die nächste findet ein paar Tage später statt. Doch der Roboter „Robodoc“ ist bereits länger an der Klinik im Einsatz. Vor der ersten Kniegelenkoperation hat er seit 1994 allein an
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dem Frankfurter Klinikum bereits etwa 2700 Hüftgelenke eingesetzt (Spiegel online, 27.3.200).
Mit Hilfe dieses innovativen Geräts der US-Firma Integrated Surgical Systems (ISS) Robodoc wird in Deutschland fleißig operiert – nicht nur in Frankfurt. Heute sind Hunderte von Patienten zu Krüppeln operiert, die Geräte längst entsorgt. 650 Geschädigte haben sich zu einer Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen, führen Prozesse. Manche können nur noch an Krücken gehen oder sitzen im Rollstuhl.
Der Robodoc hat ungewöhnlich häufig Nerven und Muskeln beschädigt. Der Journalist Herbert Stelz berichtet Ende 2003 im ARD-Magazin Monitor zum ersten Mal über solche Schädigungen. Die Operationen werden schließlich eingestellt.
Wie ist es möglich, dass dieses neue Verfahren in Kliniken praktisch ungeprüft in die stationäre Versorgung gelangte? Die Bewertung der „Innovationen“ beruht häufig nur auf Fallserien.
Dabei werden die Patienten nach dem Eingriff zwar beobachtet, eine Vergleichsgruppe gibt es aber nicht. Nachteile werden so häufig übersehen, Vorteile überschätzt. Nach randomisierten, kontrollierten Studien, in denen das neue Verfahren mit normalen Operationen verglichen wird, such man hingegen vergeblich. Solche Studien, die die Wirksamkeit der neuen Methode beweisen könnten, werden vom Gesetzgeber auch nicht gefordert – diese Vorschrift gibt es nur für Medikamente.
Ein anderes Problem ist, dass die neuen Verfahren über-
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all eingeführt werden können: Jede Klinik kann das Gerät anschaffen und, wenn es als „NUB“ genehmigt ist, abrechnen. Die Krankenkassen zahlen, und die Patienten erfahren nicht, wie experimentell das neue Diagnose- oder Behandlungsverfahren ist.
Zugleich mit dem „Robodoc“-Skandal landet das Thema „Verbotsvorbehalt“ am 15. März 2005 auf der Tagesordnung im G-BA. Eine neue Verfahrensordnung soll verabschiedet werden, der „Verbotsvorbehalt“ steht auf dem Prüfstand.
Peter Sawicki setzt sich vehement für eine Änderung ein. „Das Neue ist nicht per se besser, sondern wird es erst durch den Nachweis, dass es gegenüber dem Bisherigen überlegen ist“, lautet sein Argument. Er zählt eine ganze Reihe von Beispielen auf, wo Patienten geschadet wurde. Eines seiner Beispiele ist der Fall Robodoc. Aber er nennt auch Innovationen, die lange unbeachtet blieben, ein Schattendasein fristeten und trotz ihres Nutzens erst viel zu spät den Patienten zugutekamen. Auch das ist auf den Mangel an vergleichenden Studien zurückzuführen.
Sawickis Vorschlag lautet: Einige Kliniken – und die könnten sich abwechseln – bekämen ein größeres Budget und könnten sich mit solchen Forschungsprojekten einen Namen machen. „Es ist eine einmalige Chance für die deutschen Krankenhäuser, sich wissenschaftlich zu profilieren und so endlich auch der deutschen Medizin weltweit zu Anerkennung verhelfen“, wirbt Sawicki in der Sitzung.
Auch wenn die Deutsche Krankenhausgesellschaft sich gegen den Vorschlag stellt, wird sie am Ende im G-BA überstimmt – von den Vertretern der Krankenkassen und
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von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Lobbygruppe für die Interessen der niedergelassenen Ärzte. Auch Rainer Hess, der unparteiische Vorsitzende, stimmt für die Neuerung.
Der Beschluss enthält eine wegweisende Änderung: In Kliniken sollen künftig neue Maßstäbe gelten. „Innovationen“ – die auch in der ambulanten Behandlung eingesetzt werden können – dürfen künftig nicht mehr ungezügelt und unkontrolliert an allen Krankenhäusern bundesweit eingeführt werden. Patienten sollen mit den neuen Diagnose- oder Operationsverfahren zuerst nur an ausgewählten Kliniken oder Praxen im Rahmen von Studien behandelt werden – die Kosten dafür von den Krankenkassen getragen werden. Die Patienten hätten also Zugang zu neuen Behandlungsmethoden, nur nicht in allen Krankenhäusern – und sie wüsste, dass es sich noch um ein experimentelles Verfahren handelt. Die Innovation würde unter „kontrollierten Bedingungen“ eingeführt. Im Falle von Robodoc hätte eine solche Studie den Schaden viel früher sichtbar werden lassen, hätte vielen Menschen viel Leid erspart. In anderen Ländern wie der Schweiz ist es länger üblich, dass Behandlungen erst dann für alle Krankenhäuser freigegeben werden dürfen, wenn die Studien positiv ausgefallen sind.
Der Beschluss des G-BA wäre der Anfang vom Ende des Verbotsvorbehalts in Deutschland. Daher ist die Deutsche Krankenhausgesellschaft auch nicht bereit, aufzugeben. Sie wendet sich an das Bundesgesundheitsministerium und hat Erfolg: Ulla Schmidt legt ihr Veto gegen die neue Verfahrensordnung ein. Nur in Ausnahmefällen, so genannten Modellprojekten, sollen künftig neue
Seite 164
Verfahren vor der flächendeckenden Einführung in Studien überprüft werden – in der Regel können die Kliniken Geräte anschaffen und einsetzen wie eh und je.
Peter Sawicki hält dieses Veto für ein „Armutszeugnis“ der Politik, für ein Einknicken vor Partikularinteressen. Noch heute ärgert er sich, dass Ulla Schmidt zurückgewichen ist, und wirft ihr Ideenlosigkeit und mangelnden Gestaltungswillen vor. Dem Schutz der Patienten dient das nicht, ist er sich sicher, ebenso wenig dem medizinischen Fortschritt. Sawicki will, dass Patienten schnell Zugang zu wirklichen Innovationen erhalten, doch er ist überzeugt, dass dies im Rahmen von kontrollierten Studien besser gelingen könnte.
Nicht zuletzt hätte man auch die Chance, das Gesundheitssystem weniger zu belasten und für alle bezahlbar zu halten. Die Kosten im Krankenhausbereich steigen rapide, in die Höhe getrieben durch das unglaubliche Tempo, in dem immer neue Verfahren und Geräte angeboten werden. Hier müsste man die Spreu vom Weizen trennen und so nicht nur die Ausgaben vermindern, sondern auch die bestmögliche Behandlung für den Patienten gewährleisten.
Solange die Politik eine geprüfte Einführung neuer Behandlungen im Krankenhaus nicht gesetzlich vorschreibt, wirkt sich auch der Wettbewerb unter den Krankenhäusern nachteilig auf die Kosten des Gesundheitssystems aus. Wie oft werben Kliniken mit neuen Behandlungsverfahren, mit neuen Geräten, um gegenüber anderen Kliniken zu „punkten“, um sich ins Gespräch zu bringen und „Fälle zu generieren“.
Mit einem dieser Fälle hat sich das IQWIG besonders intensiv beschäftigt. Im Dezember 2004 beauftragt der
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G-BA das IQWIG, die LDR-Brachytherapie hinsichtlich „patientenrelevanter Therapieziele“ (zum Beispiel Überlebensrate, krankheitsspezifische Überlebensrate, Nebenwirkungen wie Impotenz, Inkontinenz) zu bewerten.
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