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Mein Mann ist gestorben

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    #61
    Heute Abend bin ich nach einem netten Beisammensein mit einer Freundin recht guter Dinge mit dem Bus heimgefahren. Ich dachte über unsere Gespräche nach und plötzlich fiel mein Blick auf eine Männerhand, die sich am Haltegriff vor meinem Sitz festhielt. Der Daumen mit Nagel löste im Bruchteil einer Sekunde das Bild von Werners Daumen aus, verwandelte sich in seinen. Am liebsten hätte ich mein Gesicht, oder wenigstens meine Hand auf die fremde Männerhand gelegt. Als ich hochblickte sah ich einen Menschen der nicht die geringste Ähnlichkeit mit meinem Mann hatte und plötzlich sah die Hand auch aus was sie war, nämlich total fremd.

    Diese kleine Sache hat mich wieder aufgewühlt und weil es meistens so banale Dinge sind auf die man sich in keinster Weise vorbereiten kann, fühlt man sich ungeschützt, ausgeliefert. Es haut mich innerlich um, gibt mir das Gefühl komplett zurückgeworfen zu sein. Kleine Erlebnisse dieser Art lösen sofort automatisch eine Kaskade anderer Trauergefühle aus: wilde Sehnsucht, das Gefühl von Verlassenheit, Verzweiflung und nach wie vor ganz viel Selbstmitleid. Dieses gipfelte heute sogar in den Gedanken, dass ich ja nicht nur eine Witwe bin, ich bin auch ein armes altes Waisenkind! Aber da mußte ich dann doch ein wenig über mich lächeln.

    Seit einer Woche beschäftige ich mich mit Werners Bibliothek, es ist ja praktisch jeder Raum der Wohnung eine solche. Im Schätzen bin ich wohl nicht gut, erst dachte ich an 2000 Bücher, dann an 3000 und mittlerweile ist mir klar dass diese Zahlenannahmen lächerlich niedrig angesetzt sind.
    Ich finde es ein unglaubliches Vorgehen seine Bibliothek praktisch auseinander zu reissen, es ist brutal, ich habe das Gefühl etwas Unrechtes zu tun. Am liebsten würde ich 1:1 alles ins Bergdorf transportieren, hinbekamen, inklusive der Bücherwände. Es geht nicht, es ist unsinnig, was ich jetzt mache, muß einfach sein. Wat mut dat mut.
    Nun nehme ich jedes Buch in die Hand und frage mich ob ich es je werde lesen wollen, das allein ist ja schon eine traurige Auslese. Bei mir sieht es jetzt unglaublich aus. Überall stapeln sich am Boden Bücher: jene die ich will, jene, an denen Werner sehr hing, andere die ich versuchen werde zu verkaufen, schließlich Stapel von Büchern die Freunde mögen werden und einige hunderte habe ich bereits mit meinem Einkaufstrolly zur nahen Kirche für den Weihnachtsbasar gekarrt. Ich weiß, dies ist der erste Durchgang, der zweite folgt wenn ich diese Wohnung dann wirklich auflöse. An diesem Wochenende habe ich frei.

    Er hat seine Bücher mit soviel Liebe, Verstand und Umsicht geordnet, das wusste ich immer. Aber wenn ich es jetzt so geballt sehe, dann rührt mich das an und ich finde mein Tun verwerflich.

    Es gibt auch Situationen, da stehe ich kopfschüttelnd da: wenn ich in einem Buch die astronomische Rechnung des Antiquariats sehe, wenn es eine Gesamtausgabe gleich zweimal gibt, halt in verschiedenen Ausgaben. Aber dann denke ich, es war sein Geld, seine Entscheidung, er hatte Freude damit, es war ihm wichtig. Ich kenne eine Frau, die nach lebenslanger Ehe Rechnungen von Schmuckstücken fand, die sie nie erhalten hatte. Also da sind mir dann meine Funde schon lieber.

    _________________________________________________
    @W.Rellok
    Lieber Winfried,
    Danke für Deine freundlichen Worte. Ich habe ja nicht den Eindruck eine beachtliche Entwicklung gemacht zu haben, es haut mich immer wieder gewaltig hin und her und auch zurück. Aber das Schreiben hier tut mir gut, auch eine Ecke für mich außerhalb der Wohnung zu haben in der ich mich wohl gelitten fühle, eine Art Zufluchtsort.

    Google sagt mir nicht was “Irxenschmalz” genau bedeutet, bitte sag du es mir!.
    Liebe Grüße Briele

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      #62
      Irxenschmalz, das [Iàxnschmåiz] Kraft, Muskelkraft in den Armen/Schultern

      Liebe Briele,

      ...Werners Bibliothek, es ist ja praktisch jeder Raum der Wohnung eine solche. Im Schätzen bin ich wohl nicht gut, erst dachte ich an 2000 Bücher, dann an 3000 und mittlerweile ist mir klar dass diese Zahlenannahmen lächerlich niedrig angesetzt sind.
      das zu bewältigen braucht es

      Irxenschmalz, das[Iàxnschmåiz]

      das bedeutet: Kraft, Muskelkraft in den Armen/Schultern
      so war es gedacht und in Kenntnis deines Bergdorfes hatte ich bayerisch-oesterreichisch gedacht.


      Winfried

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        #63
        Über “die Ängste”

        Ich frage mich wann es begann, daß ich mich dauernd vor etwas ängstige, diffuse Ängste, bange Fragen die Zukunft betreffend habe. Ich meine nicht die begründeten Ängste. Früher fürchtete ich mich vor etwas Konkretem, es war zeitlich eingegrenzt, es war realer. Nun habe ich manchmal schon Angst vor der Angst.

        Mir scheint es begann mit Mamas Krebserkrankung. Es war die erste wirklich große Erschütterung in meinem Leben und natürlich müsste ich vor Dankbarkeit in die Knie gehen, dass nicht früher, dass nicht Schrecklicheres passiert ist. Ab da fing es an mit gebetsmühlartigen Gedanken: wie wird nur alles werden, was wird sein, was kann passieren, mache ich etwas falsch, wäre eine andere Entscheidung besser, wobei muß ich aufpassen, habe ich etwas übersehen, was soll ich tun?

        Rückblickend betrachtet hätte ich mir so manche Angst sparen können. Nach Mamas Operation gab ihr der Arzt noch ca. zwei Jahre und meinte sie würde vermutlich einen Darmverschluß bekommen. Dies passierte nicht. Sie lebte noch drei Jahre und auch recht gut, aber ich war die Oberwächterin ihrer Verdauung und bin ihr dabei vermutlich manchmal auf den Geist gegangen.
        Zwei Jahre später war es ähnlich mit Papas Raucherbein, der Amputation, der Blutvergiftung, die als Schrecken an die Wand gemalt wurden. Gemalt von Ärzten, befürchtet von mir. Es kam nicht dazu, Gott, dem Himmel, dem Schicksal, wem immer sei Dank.

        Mein armer Werner hatte fürchterliche Angst vor einer Kiefernekrose. . Ich weiß nicht mehr wann er die erste Zometainfusion erhielt, bestimmt 8 Jahre vor seinem Tod und dieses Thema, bzw. seine Ängste beschäftigten ihn sehr, mehr als die Krebserkrankung. Manchmal dachte ich, vielleicht sucht man sich ein Nebenthema, besetzt es mit Angst und hält sich so das Hauptthema vom Hals. Aber ist es nicht schade soviel Einsatz für eine Befürchtung aufzubringen, die nie Realität wird? Nun könnte man meinen nach all diesen Erfahrungen werde ich klüger, aber offensichtlich nicht. Wie viel Zeit, Energie, Gefühle steckt man oft in Befürchtungen die nie eintreten und wenn sie eintreten, dann hat man sie mit den vorauseilenden Ängsten ja nicht abwenden können, kann dadurch nicht unbedingt besser damit umgehen. Zeit, Energie die für positive Dinge, für Freudenbringer vielleicht fehlen. Es kommt eh meistens anders als man denkt. Oft rufe ich mir zu - lebe doch nicht schon heute die Sorgen von morgen, oder - fürchte dich doch erst dann, wenn es zum Fürchten ist! Im letzten Jahr, wenn meine Ängste mit mir Karussell fuhren, sagte ich manchmal streng zu mir “Stopp!!” und fragte nach, was ist jetzt, jetzt in diesem Moment? Oft war dann die Antwort, jetzt ist eh noch alles halbwegs im Lot, Werner sitzt entspannt da, er kann denken, sehen, sprechen, hören, er kann gehen, stehen, sitzen, seinen Interessen nachgehen, er kann Nahrung aufnehmen und ausscheiden, wir haben Medikamente, Ärzte, Versicherungen, wir sitzen im Warmen und Trockenen, der Kühlschrank ist voll. Wir haben einander und mehr Liebe denn je.

        Wenn man älter wird gibt es ja meist Anlässe zu begründeten Sorgen, die in Ängste münden. Die meine ich wie schon gesagt nicht, ich meine die herbei geholten. Vielleicht ist es ja normal und es lohnt nicht darüber nachzudenken. Wer es nicht kennt, dem kann man es kaum begreifbar machen und beim Versuch verstummt man schnell, weil einem der Irrsinn bewusst wird.

        Mein früheres Leben kann ich nicht wiederhaben, aber ich habe manchmal eine gewisse Sehnsucht nach meinem früheren Ich, sowie die leise Hoffnung meine Zuversicht, das Selbstvertrauen, oder vielleicht besser gesagt “Urvertrauen” wiederzufinden und meine diffusen Ängste dafür abzugeben.

        Liebe Grüße von der Briele
        __________________________________________________ _

        @w. Rellok
        Lieber Winfried, es ist das erste “boarische” Wort, das ich nicht kannte, wobei es mit Sicherheit noch mehrere gibt. Ich dachte es ginge in Richtung “Seelenschmalz” - so wie das Gehirnschmalz.
        Liebe Grüße Briele

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          #64
          Die oben beschriebenen Ängste sind gekommen, etwas anderes ist seit dem Tod meines Mannes gegangen: das Gefühl behütet, beschützt zu sein. Das ist endgültig dahin und nun, da ich es nicht mehr habe, weiß ich erst wie gut es getan hat. Ich kann in solchen Dingen ja etwas spröde sein und habe meine Eltern, besonders meinen Papa, sowie Werner da bestimmt öfter gekränkt, wenn ich deren Bemühungen, Warnungen, abgeschmettert habe.

          Zu meinem Mann habe ich einmal gesagt, dass ich Papa vermutlich nicht so vermisse wie Mama, weil er immer mehr wie Papa mir die Gefahren des Lebens aufzeigt, mir sagt, wobei ich aufpassen muß. Er meinte darauf, dass er sich ja bemühe auch meine Mama zu werden, bereits die Hormontherapie mache und mehr könne er nun wirklich nicht tun. Er war so witzig mit seinem schwarzen Humor und ich weiß natürlich, dass solche Aussagen nicht jeder goutiert.

          Jetzt ist das auch weg und ich hätte gerne etwas davon zurück, nicht alles, das gebe ich zu. Ich hätte gerne das Gefühl zurück, das Urvertrauen, zu wissen da ist jemand, der mich immer und ohne Bedingung auffängt, für mich da ist. In der Religion wird es für mich nicht sein, also bleibe ich nur selbst übrig, ich werde es in mir finden müssen.

          Manches ist gut in einer gewissen Dosis, kippt aber leicht wenn es zuviel wird. So wie es mir öfter auf den Geist ging, wenn meine drei lieben Menschen meinten mich vor allen Gefahren beschützen zu müssen, so habe ich sie umgekehrt zu sehr betüddelt, was sie auch nicht immer angenehm fanden. Es ist schwer die Mitte zu finden und daher ist es wichtig auch einmal zu sagen, man möchte in Ruhe gelassen werden.

          Heute koche ich einen großen Topf Hühnersuppe mit viel Gemüse. Es war das einzige Gericht das Werner immer zubereitete, im letzten Jahr machte ich die niedrigen Dienste, wie Gemüse putzen und schneiden. Bei Erkältungen war dies für ihn das Mittel erster Wahl und in den Wintermonaten wollte er immer mehrere Portionen davon im Tiefkühler haben.

          Ich habe das Gefühl eine Art Vorsorge für den Winter treffen zu müssen und beginne mit dieser Suppe. Ich werde Brot und Butter einfrieren, mir Gedanken über anderes machen, eine supergroße Packung Papiertaschentücher kaufen, die Medikamente im Hinblick auf Erkältung und Grippe ergänzen. Manchmal denke ich, ob ich nicht eine Tasche packen soll, falls ich ganz plötzlich in ein Krankenhaus muß, das scheint mir dann wieder etwas übertrieben.
          Es sind dies alles natürlich fast einfältige Bemühungen um Sicherheit.

          Meine junge Nachbarin aus dem Bergdorf schreibt mir beeindruckend und anrührend über ihre Trauer nach dem Tod ihres Vaters. Sie schrieb ……
          “in den letzten Monaten ist so viel geschehen, gab es viele Änderungen, es ist Herbst geworden, es wird Winter und Papa bleibt immer im Sommer zurück…..”

          Vor ein paar Wochen habe ich über mein Treffen im Trauercafé geschrieben und den Frauen, die auf ihre verstorbenen Männer wütend sind. Vielleicht konnten sie sich nur nicht so gut erklären, wie meine ältere Hamburger Freundin, die mir schrieb: ……”es ist alles so traurig und eigentlich könnte man sehr wütend werden, darüber, dass es uns Menschen möglich ist, uns an andere mit der ganzen Seele zu binden und dann so brutal auseinander gerissen zu werden. Manchmal entdecke ich diese Wut noch in mir, unter der Traurigkeit verborgen …..”

          Herzliche Grüße und gute Wünsche an Euch, die Ihr hier lest
          Eure Briele

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            #65
            Ich fühle mich recht angeschlagen in letzter Zeit und habe ein paar Tage Pause in meinen “Bibliotheksarbeiten” eingelegt. Es hat nichts gebracht. Setzt mir doch die dunkle Jahreszeit zu, von der ich dachte, sie würde mir nichts anhaben, oder ist es die nahende Weihnachtszeit. Wahrscheinlich einfach der Trauerweg, mein Trauerweg. Ich empfinde mich schonungsbedürftig und habe dieses Gefühl so ausgeprägt das erste Mal in meinem Leben, wobei einmal der Akzent mehr auf “Schonung” und dann wieder auf “bedürftig” liegt. Die Tränen sitzen recht locker, ich bin insgesamt leicht angerührt, vertrage nichts Böses, wie entfernt es auch von mir sein mag, wie z.B. im Fernsehen oder Geschriebenes. Aber ich mag auch nichts Aufheiterndes, am liebsten sind mir harmlose Naturfilme oder ich blättere in Kunstbüchern. Es wird dieses insgesamt bescheidene Leben schon seine Richtigkeit haben, aber manchmal denke ich, das sollte ich mir nicht so durchgehen lassen.

            Mein Mann war viele Jahre krank, es war ein langsamer Abschied, er hat einige Male gemeint nun müsse er bald sterben, aber dass er dann wirklich gestorben ist! Ich weiß wie seltsam dieser Satz ist, trotzdem denke ich ihn ganz oft.

            Ich kenne drei Frauen die alles daran gesetzt haben, damit ihre sterbenden Männer noch einige Wochen, sogar einige Monate am Leben blieben, wenn auch nicht im wachen Zustand. Sie sagen, sie haben diese Zeit gebraucht. Das finde ich nach wie vor grausam, das hätte ich nie gewollt. Was mir fehlt, das sind die drei Stunden in denen ich nicht bei ihm war, in denen er gestorben ist. Ich habe so einen langen Atem gehabt, am Ende hat er dann doch nicht gereicht. Vielleicht hat mein Mann die drei Stunden ohne meine Anwesenheit gebraucht, das kann schon sein, aber genau wissen tut es auch keiner.

            Briele

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              #66
              Hallo Briele,

              bei Günther Jauch habe ich an deinen aktuellen Forumsbeitrag denken müssen. Vielleicht solltest du morgen Das Erste Anklicken und die Sendung

              Doku. "Eine Reise mit Anke Engelke" zur Themenwoche "Zum Glück". Wie lässt sich dieses definieren?
              ansehen.

              Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft.

              Winfried

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                #67
                Heute vor sechs Monaten ist mein Mann gestorben und es ist seltsam, dass man die “Zeit” so verschieden erleben kann. Einmal kann ich es kaum fassen, dass es bereits sechs Monate sind, dann empfinde ich diese manchmal recht hart durchlebten einzelnen Tagesabschnitte als unheimlich lange. Doch auch die Menschen um mich herum empfinden diese Zeitspanne verschieden. Manche sagen es sei alles noch ganz frisch, wenn es um meine Traurigsein geht, andere vermitteln mir, dass ich nun langsam, - ja was -, wahrscheinlich aufhöre traurig zu sein. Jeder meint es auf seine Art gut mit mir. Mir ist, als müßte ich schon jahrelang ohne Werners Liebe, seine Fürsorge, halt ohne ihn leben.

                Wenn ich das nur anklingen lasse, dann stürzen die meisten herbei und sagen, er ist ja bei dir, die Liebe bleibt für immer. Dem stimme ich zu, über weite Strecken empfinde ich auch so und mir ist klar, dass ich die Gefühle von Liebe und Nähe transformieren muß, in das Seelisch-Spirituelle.

                Das gelingt einmal und dann wieder nicht. Manchmal weiß ich nicht wohin mit meiner Liebe - und ja, ich bin durchaus fähig anderen Liebe zu geben, sie war nie nur auf meinen Mann beschränkt. Ich vermisse ganz schrecklich seine Umarmungen, sein Dasein für mich, das Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit, Wärme, das er mir immer gegeben hat, seinen Witz, seinen schwarzen Humor, ach Gott so vieles. Und da kann ich dann an der seelisch-spirituellen Schraube hin und her drehen wie ich will, das wird dann nichts.

                Es gibt etwas, was eher ein Gefühl als ein Gedanke ist, mehr läßt der Verstand wahrscheinlich nicht zu. Ich fühle/teildenke, dass ich doch nun wirklich lange tapfer war, es sogar demütig hingenommen habe, irgendwie “brav” war und nun müßte es doch gut sein, ich “belohnt” werden und ich bekomme mein altes Leben zurück.
                Vermutlich klingt das für viele ziemlich durchgeknallt.

                Sechs Monate bis jetzt. Was wird in sechs Monaten sein? Werde ich so sein wie ich jetzt bin, nur sechs Monate älter, bin ich krank, bin ich tot, niemand kann es wissen. Und wo werde ich sein, das steht auch in den Sternen. Die Wohnung will ich bis dahin aufgelöst haben, so schwer es mir fällt, es ist eigentlich Luxus sie ein ganzes Jahr nach seinem Tod zu behalten. Manchmal habe ich ein Gefühl von Zuversicht, dass sich schon alles fügen und finden wird, dann denke ich wieder das ist ein kindisches Denken.

                Wahrscheinlich sind diese mühseligen Ordnungs-Räumungsaktionen wie ich sie in der Wohnung praktiziere für mich wichtig und haben einen Sinn, den ich erst im nachhinein erkennen werde. Ich könnte es mir ja einfacher machen und zeitweise finde ich den Gedanken beruhigend, jederzeit jemanden kommen zu lassen und zu sagen, nehmen sie bitte alles mit, ich schenke es ihnen.

                In spätestens sechs Monaten wird es so oder so getan sein. Und dann? Was wünsche ich mir? Ich möchte gerne wieder zuversichtlicher sein, sicherer, wieder fröhlich sein können, leichter durchs Leben gehen. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich allein(stehend), das ist natürlich beklagenswert, aber zum ersten Mal in meinem Leben brauche ich bei Plänen, Entscheidungen, auf niemand Rücksicht nehmen und das könnte ich irgendwann auch positiv erleben. Vielleicht ist es gar nicht so blöd dies hier aufzuschreiben und in sechs Monaten lese ich es und ziehe eine Zwischenbilanz.

                An dieser Stelle möchte ich Euch wieder einmal danken für das Lesen hier, die Kommentare, die persönlichen Nachrichten. Ich wollte ich könnte Euch etwas zurückgeben.
                Liebe Grüße Briele

                __________________________________________________ ____
                @W. Rellok
                Lieber Winfried,
                Herzlichen Dank für den Fernsehtipp. Vor etlichen Jahren war ich der Meinung Anke Engelke nicht unbedingt sehen zu wollen und habe “Sowas wie Glück” nur eingeschaltet weil Du Dir die Mühe gemacht hast mich darauf aufmerksam zu machen. Nun, entweder hat sich die Engelke geändert oder ich, auf jeden Fall habe ich die Sendung gerne gesehen.
                Danke!
                Liebe Grüße Briele

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                  #68
                  Liebe Briele,
                  nach wie vor bin ich als Mitleser in Deinem thread dabei und warte manchmal schon auf die Fortsetzung Deiner Geschichte, welche ich dann meist mit meiner Frau diskutiere.
                  Erlaube mir bitte einmal einen Blick in die Zukunft welche ja zunächst mit der Auflösung der Hamburger Wohnung beginnt. Ich kann mir garnicht vorstellen was mit diesen vielen, in die Tausende gehenden Büchern geschieht, welche Du ja möglichst sinnvoll unterbringen bzw. verschenken willst. Das dafür eingeplante halbe Jahr wirst Du dafür gut gebrauchen.
                  So viel ich mich erinnere, willst Du dann in Dein " Bergdorf " zurück kehren und dieses liegt vermutlich in Österreich zwischen Vorarlberg und dem Wienerwald.
                  Wie einsam oder auch nicht ist es da und hast Du dort Freunde, Bekannte oder Verwandte ? Mußt Du dort erst eine Bleibe einrichten oder gibt es diese schon ?
                  Sprichst Du noch die Sprache (Dialekt) dieser Gegend ?
                  Verzeih bitte meine Neugier und es ist nicht so das ich Dir Sorgen bereiten will, denn Du hast das sicher gut überlegt und geplant.
                  Also das Interesse an Deiner Zukunft ist groß und Du darfst uns auch gerne weiterhin daran teilhaben lassen.
                  ES grüßt Dich ganz herzlich, Carlos

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                    #69
                    Zitat von Briele Beitrag anzeigen

                    Es gibt etwas, was eher ein Gefühl als ein Gedanke ist, mehr läßt der Verstand wahrscheinlich nicht zu. Ich fühle/teildenke, dass ich doch nun wirklich lange tapfer war, es sogar demütig hingenommen habe, irgendwie “brav” war und nun müßte es doch gut sein, ich “belohnt” werden und ich bekomme mein altes Leben zurück.
                    Vermutlich klingt das für viele ziemlich durchgeknallt.

                    Liebe Briele, ich lese schon lange mit. Ich bin dir dankbar, das du deine Gefühle so gut ausdrücken kannst. Meine Mutter starb vor 3 Jahren und ich kenne alle Phasen, die du durchlebst! Auch wenn mitlesen die Trauer ein Stück weit zurück kommen lässt, es ist keineswegs nur das traurig sein, was meine Tränen laufen lässt, sondern viel öfter einfach ein wunderbares Gefühl von tiefstem Berührtsein.

                    Ich wollte dir schon länger hier schreiben, ich weiß nicht, ob es jemand anderer nicht schon längst aussprach, bestimmt sogar, aber trotzdem sage ich es nochmal: Trauer ist die andere Seite der Liebe.

                    Wolltest du, wollte ich lieber nie geliebt haben, um nie trauern zu müssen? Niemals! Was mich betrifft jedenfalls.

                    Liebe ist, was alles verwandelt. Sie ist das einzig Aufbauende, Positive, das wir den Lebensängsten entgegen setzen können, dem Schmerz, der uns manchmal trifft, der Vergänglichkeit. Ich kopiere dir unten noch mehr dazu rein, hier, direkt an dich mag ich sagen: die Liebe, deine Liebe, dein lieben können kannst und wirst du nicht verlieren! Gerade weil du die Liebe so lebst, auch in Form der Trauer.

                    Sie, diese Fähigkeit: dich selbst zu spüren, dein lieben anderer Menschen, das Leben und dein dich selbst lieben wird dich immer begleiten und dir in allem helfen, sie wird deine Trauer verwandeln - in einer gewissen Zeit wird sie die Trauer ummanteln in ein Gefühl der - Liebe eben.

                    Und - nein, das klingt ganz und gar nicht durch geknallt! Der Gedanke ist völlig logisch und normal. Auch ich spürte den Druck von manch anderen, das es jetzt genug sei mit der Trauer. Oder hab ich ihn mir nur eingebildet und selbst gemacht??!! Auf jeden Fall - es braucht seine Zeit, bei manchen weniger, bei anderen mehr. Aber die Zeiten, die man früher den Menschen dafür gab, sind gewiss nicht falsch! Was mich und meine Mutter betraf, ich musste einfach auch ins Reine mit ihr (in mir) kommen - ein wenig mehr noch als vor ihrem Tod verstehen, was gelaufen war in all den Jahrzehnten, was an unendlich Gutem und Schönen, das mich mit Dankbarkeit erfüllt. Aber auch, was an falschem gelaufenen war. Ich brauchte es, dies mit ihr - in mir - abzuklären, meine Verletzungen zu spüren, meine Trauer und Wut, danach zu sehen, das es nicht böswillig war von ihr, sondern eben aus ihrer Geschichte kam. Danach konnte ich verzeihen und übrig blieb die Liebe.

                    Alles Gute


                    Thomas


                    Über die Liebe:

                    Wir leiden wir alle unter der Erkenntnis unserer Sterblichkeit, der Erkenntnis, das dies Leben auch unverhinderbar Leid mit sich bringen wird und unter der Sinnfrage. Der Antworten gibt es ohne Ende. Was mich betrifft, bin ich zu der Überzeugung gekommen, das es nur zwei Lebensweisen gibt: man liebt in der Liebe oder in der Angst.

                    Die Angst – ist zb, verlassen zu werden, allein lebensunfähig zu sein, andere mit unseren Problemen zu belasten, nicht mehr dieses oder jenes „haben“ zu können statt zu „sein“ (E: Fromm) uvm. Sie vertraut logischerweise nicht, verheimlicht, manipuliert, macht körperlich und seelisch krank.

                    Die Liebe „riskiert“ scheinbar all diese Verluste, sie scheint manchen Zynikern nur dem Deppen möglich, aber ich sehe nicht, was anderes man all dem entgegensetzen könnte, das uns Angst macht. Die Liebe vertraut, schafft Vertrauen - in sich selbst, ins Sein, ins Sinnhafte des Geschehens – bzw darin, dem, was geschieht, meistens etwas sinnvolles abzuringen.

                    Angst ist Vermeidung, Liebe ist aus dem Vollem leben. Angst sagt: wir leben, um zu sterben. Liebe sagt, wir leben, um zu leben, um zu lieben, unseren Beitrag zu bringen. Liebe verwandelt beständig, ist lebendig, ohne Wiederholung, sie lässt los und geht mit den Veränderungen, mit den Notwendigkeiten akzeptierend mit, sie ist dankbar und verzeihend, authentisch und achtsam, während Angst in Rigidität, im Festhalten erstarrt, sich selbst und andere permanent verletzt. Manipuliere ich andere, denke ich nur an mich, bekomme ich auch genau das zurück.

                    Gib Liebe und du bekommst Liebe zurück, vielleicht nur in 90% aller Begegnungen, aber mei, wo bekommt man schon 90 %?! Und die restlichen 10% wiegt man locker mit den 90 % auf.

                    Das löst sicher nicht alle Ängste und Probleme auf, vielleicht zum Glück, sonst würde es ja langweilig, gäbe es keine Herausforderungen, gäbe es nichts mehr zu lernen im Leben, aber so als Grundhaltung: "Liebe das Leben und das Leben liebt dich", das kann ich doch so bestätigen.

                    Und wenn wir das Leben lieben, gelingt es uns vielleicht auch, den Tod zu lieben, denn er ist ja untrennlich Teil des Lebens. Ich meine damit nicht, ihn zu ersehnen (in der Regel jedenfalls), gewiss nicht, ihn zu verherrlichen, sondern ihn als eine weitere Erfahrung der Erfahrungskette, die man 'lebendig sein' nennt, zu akzeptieren.

                    Vielleicht sogar mit Spannung, sogar mit Freude dieser Erfahrung als solcher entgegen zu sehen. So, wie wir im Leben leben immer wieder auf Abstand zu uns gehen und sagen können: Aha, jetzt erlebe ich also das, jetzt macht das Leben jenes oder dieses mit mir, jetzt fühle ich dies und das, wie spannend, wie aufregend, wie lebendig, so können wir auch durch das Sterben gehen, durch oder in den Tod gehen, als (eventuell letzte) große Erfahrung des am Leben seins, die wir ebenso bejahen sollten, wie alles andere im Leben auch.

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                      #70
                      @Carlos
                      Lieber Carlos, danke für das Interesse an meiner Person. Ich habe seit längerem ein großes Blatt Papier, auf dem ich alle pro’s und contra’s notiere. Das halte ich immer so wenn es um wichtige Entscheidungen geht, doch ein wenig ist es wahrscheinlich wie bei manchen Statistiken. Es kommt das raus, was man gerne hätte und was heute stimmt ist morgen wieder anders.
                      Im Bergdorf gibt es das fertige Nest, aber da ich seit meinem 17. Lebensjahr immer zumindest die Hälfte des Jahres in einer Großstadt gelebt habe, kann ich es mir schwer vorstellen ausschließlich dort zu sein. Die Frage ist jetzt: Hamburg oder Wien. Dafür gibt es den großen Zettel.
                      Den Dialekt des Bergdorfes habe ich nie gesprochen, verstehe aber die Leute und die mich auch. Wie das mit den Büchern (sowie ca. 20 Meter Schallplatten, die auch auf mich warten) genau werden soll weiß ich auch nicht so ganz.
                      Herzliche Grüße und gute Wünsche an Dich und Deine Frau

                      Kommentar


                        #71
                        @Orixa!
                        Lieber Thomas, vielen Dank für Deinen “Brief”. Dein Name ist neu für mich, daher habe ich Deine anderen Beiträge angeklickt und gesehen, dass Du in Deinem thread das Wort an mich gerichtet hattest. Ich habe das vorher nicht gelesen gehabt, sonst hätte ich darauf reagiert, das kannst du mir glauben.

                        Jeden Satz von Dir kann ich unterschreiben. Eines bedingt das andere: viel Liebe und Nähe ist dann halt viel Trauer und Verlust. Das wusste ich immer. Als ich einige Jahre nach Mamas Tod bei einer Freundin über meine Trauer, meine Sehnsucht sprach, da meinte diese sie würde das Schwere gerne auf sich nehmen, es erleben, wenn sie dafür das andere auch gehabt hätte.

                        Wie gut, dass Du Deiner Trauer nicht aus dem Weg gegangen bist und jetzt mit Liebe und Dankbarkeit an Deine Mutter denken kannst. Besser kann es nicht sein.

                        Danke auch für den wirklich schönen angehängten Text!
                        Ich wünsche Dir dass weiter alles gut bleibt und Du Dich erst mit 86plus vielleicht mit etwas auseinander setzen mußt und vielleicht ja nicht einmal dann.
                        Liebe Grüße Briele

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                          #72
                          Warum meine ich bei guten Meldungen eine Beschwörungsformel hinterher schieben zu müssen - wie - ich will es nicht verschreien, oder hinter dem Rücken zwei Finger zu kreuzen. Wenn ich schon frank und frei über meinen Kummer schreibe, dann will ich auch berichten, dass es mir derzeit recht gut geht.

                          Ich lade nun Leute ein, koche, backe, decke den Tisch schön, versuche es den Gästen behaglich zu machen. Wenn sie gehen, können sie sich aus meinen Bücherstößen bedienen. Ich fühle mich dann recht zufrieden.

                          Der Advent, die Vorweihnachtszeit hat begonnen. Ich war lange unschlüssig gewesen wie ich es halten will. Gänzlich ignorieren, alles so gestalten wie in den letzten Jahren, es anders machen.

                          Die seltsame Krippe, die wir zwei alten Damen abgekauft haben weil sie uns leid taten, werde ich nicht aufstellen. Ich habe einige wenige Sachen ausgewählt die wir gemeinsam gekauft haben, ich habe Neues erstanden und zusammen mit Zweigen und vielen Kerzen ist das dann meine Dekoration. Ich werde zu ein paar Konzerten gehen, Einladungen annehmen, selbst welche aussprechen. Weihnachtsbriefe werde ich schreiben, Geschenke kaufen, auch für mich eines. Ich will es mir nett machen.

                          Weihnachten will ich ganz bewusst alleine verbringen. Das erste Mal in meinem Leben. Noch geht es mir beim Gedanken daran einigermaßen gut, wahrscheinlich weil ich mehrere Optionen hätte. Ich könnte in das Bergdorf fahren, auch jemanden einladen und habe selbst Einladungen bekommen. Ich kann am 24.12. in diesem thread einen halben Meter Text schreiben, am 25.12. den nächsten und bin schon recht dankbar, dass man mir dies ermöglicht. Ich kann auch noch am 24.12. in das Bergdorf fahren. Ich kann die Telefonseelsorge anrufen. Ich kann einfach traurig sein, weinen, ich weiß ja wie das ist und auch, dass es dann wieder weg geht.

                          Aber wie es dann wirklich wird, weiß ich natürlich nicht. Ich denke schlimmer als dieser Reisetag von Wien nach Hamburg Anfang Oktober kann es nicht werden. Irgendwie bin ich jetzt wieder bei der, vor einiger Zeit beschriebenen, vorauseilenden Angst. Schluss damit!

                          Also ich will ja erzählen inwiefern es mir besser geht.
                          Es gibt nun Mittwoche und Donnerstage, die ich nicht wie einen Karfreitag erlebe, an denen ich nicht dauernd auf die Uhr blicke und daran denke was genau war und es gab sogar Donnerstage, an denen ich am Nachmittag feststellte um 13.23 nicht an Werner gedacht zu haben. Ich kann wieder klassische Musik hören, nicht immer, manchmal ist es besser es nicht zu tun. Während ich dies schreibe merke ich, dass ich das Besserfühlen an vielen “nicht” festmache.

                          Wie merkwürdig. Über meinen Kummer zu schreiben fällt mir leichter, wenn ich erzählen will, dass es mir besser geht, wird es holprig. Auch wenn ich es eigentlich ausschließe, ist offensichtlich etwas in mir das meint, es gehört sich nicht, dass es mir besser geht.

                          Unlängst wurde ich gefragt was mir geholfen hat als es Werner im letzten Jahr schlecht und schlechter ging. Da mußte ich direkt kurz nachdenken und an erster Stelle war das Schreiben im Tagebuch . Es gab aber noch etwas. Eine Art von Tagträumerei. Daran hatte ich in den letzten Monaten gar nicht mehr gedacht, doch sie war mir sofort wieder präsent. Wenn ich etwas gelesen, gehört, gesehen hatte was ich mit mir in Verbindung bringen konnte, dann kam mir manchmal ein Gedanke meine Zukunft ohne Werner betreffend, den ich weiterspann. Mit der Zeit entwickelte ich ein kleines Ritual wenn ich im Bett lag, das Licht ausgemacht war:

                          Zuerst machte ich ein paar Atemübungen, versuchte nur an mein Ein- und Ausatmen zu denken und merkte wie mir das gut tat, auch wenn es nur ein paar Minuten möglich war, dann schnell drängten sich alle möglichen Gedanken mit Macht vor. Als nächstes kam die modifizierte Großmutter-Gewissenserforschung dran, d.h. ich überdachte noch einmal den Tag und wie schon einmal geschrieben, es war wirklich an jedem etwas Gutes, Schönes passiert. Und dann ließ ich der Tag/Wachträumerei freien Lauf, in allen Einzelheiten malte ich dieses und jenes aus. Es tat mir gut und ich wusste es ist gut auch positive Bilder die Zukunft betreffend zu haben, in der ich ohne Werner leben werde. Im letzten halben Jahr hatte ich aber nicht mehr an diese Bilder gedacht. Vielleicht kommt die Zeit das eine und andere Wirklichkeit werden zu lassen, zumindest es zu versuchen.

                          Ich wünsche ein schönes Adventwochenende und auch sonst alles Gute.
                          Liebe Grüße von der Briele

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                            #73
                            Liebe Briele,

                            zum 1. Advent wünsche ich Dir Ruhe und viele entspannende Stunden. Ohne Kommentar habe ich hier etwas zum Lesen hinzugefügt.

                            "Die Zeit verweilt lange genug für denjenigen, der sie nutzen will"
                            (Leonardo da Vinci

                            Herzliche Grüße Harald

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                              #74
                              Auf einem Schrank waren viele große Umschläge mit Röntgen- und anderen Aufnahmen vom Körper meines Mannes. Ich habe sie herunter geholt. Auf einigen Bildern sieht man sehr viel von ihm, vom Schädel bis zur Zehenspitze, und doch zeigt es nichts was ihn ausmachte. Nun werde ich mich kundig machen wie man dieses Material entsorgt.

                              Es ist schade und ich empfinde es als Verlust, dass ich so schnell den Ton der Stimme von Menschen verliere, die mir sehr nahe sind, und nur von denen. Das erste Mal wurde mir dies nach Mamas Tod bewusst, ich war geradezu entsetzt. Eine Freundin meinte, da müsste ich doch nur auf meine eigene Stimme hören und schon hätte ich Mamas Stimme im Ohr. Aber das stimmt nicht.

                              Bei Papa wollte ich es besser machen und ließ ihn zwei Bänder besprechen, es ist eine Art Interview, in dem ich ihn zu verschiedenen Themen befrage. Ich hüte sie wie einen Schatz, sollte sie vermutlich überspielen, aber es ist wie eine Sperre in mir seine Stimme auf diese Weise herbeizuholen.

                              Auch Werners Stimme ist für mich weg. Ich finde das sehr schade und begreife es nicht, weil ich andrerseits ja jede Kleinigkeit erinnere die Jahrzehnte zurückliegt.

                              Es ist aber auch vieles da und sehr präsent. Sichtbares, Unsichtbares. Bei länger andauerndem Lärm rege ich mich stellvertretend für Werner auf, jedes Zettelchen das seine Handschrift trägt, ist wert aufgehoben zu werden. Ich höre, sehe, lese etwas zu einem Thema das ihn interessierte und schon ist er neben mir. Dazu gehört z.B. die Elbphilharmonie. In den letzten Jahren sagte er manchmal, die Eröffnung möchte ich noch gerne erleben. Ein paar Tage bevor er starb, war wieder ein Artikel in der Zeitung und er meinte, nun geht es sich nicht mehr aus. Ich antwortete, darüber müsse er sich nun nicht grämen, denn dies würde vermutlich nur jemand erleben, der jetzt ein Kind ist.

                              Ich mache brav updates, speichere auf dem stick, gehe nicht einkaufen während die Waschmaschine an ist, trage einen Schal, auch was auf dem Kopf wenn es kalt ist. Ich kaufe regelmäßig von Obdachlosen die Zeitung, versuche daran zu denken mehr Wasser zu trinken und man kann natürlich sagen, Mensch, das sind doch alles Sachen die jeder tut. Aber mir hat das immer mein Mann gesagt und vor die Wahl gestellt es zu vermissen, oder Herz und Ohren aufzumachen um es weiter zu hören, habe ich mich für die zweite Variante entschieden und will ihm zuhören.

                              Und so sehne, denke, phantasiere ich ihn mir herbei, hänge mir seine Jacke um, schlafe in einem T-shirt von ihm, rieche an seinem Deodorant, koche einen Topf Gulasch weil er das gerne mochte. Und manchmal mache ich rein gar nichts, und dann ist er plötzlich da und ich sage, he, da bist du ja! Und ich gehe auf der Straße inmitten der vielen Menschen und im Takt der Schritte sage ich leise Wer-ner, Wer-ner, Wer-ner.

                              Briele

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                              Lieber Harald_33
                              Danke für den Link. Wie in dem Artikel auch kurz erwähnt ist es eben wichtig den Unterschied zwischen “allein” und “einsam” zu erkennen.
                              Einsamkeit ist herber als Alleinsein, das man ja oft möchte, doch unfreiwillig alleine sein ist auch wieder etwas anderes. Aber wenn man solche Einsamkeitsuntiefen, Alleinseintäler durchwandert, dann kommt man mitunter gestärkt hervor. So wie einem ja fast nur die dunklen Stunden weiterbringen.
                              Alles Gute für Dich und liebe Grüße Briele

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                                #75
                                Danke dir auch, Briele. Für deine Worte und Berichte.

                                Ich glaube, das wichtigste daran für uns andere, jedenfalls für mich, ist, sehen zu dürfen: es geht uns allen doch recht ähnlich mit diesen schwierigen Dingen. Darin steckt nicht nur ein mehr oder minder starker Trost, darin steckt das Bewusstsein, das wir Menschen alle ein "wir" sind.

                                Vielleicht geht die Stimme tatsächlich leichter verloren als anderes, aber wir sprechen tonlos alle miteinander weiter! Wahrscheinlich besser als mit Stimme, es ist viel enger, näher! Und es gibt dem Gesagten mehr Freiheit. Alle Menschen reden so mit uns! Alle - das sind die, die von uns gegangen sind, das sind die, die mit uns auf der Welt leben - und, wer sehr genau hinhört, sehr wohl auch die, die nach uns kommen werden. Auf dieser Ebene können wir gar nicht einsam sein - da sind wir permanent verbunden. Die Abgetrenntheit von allem Lebenden ist nur ein Effekt des Verstandes - er muß alles trennen, weil er sonst nicht "begrifflich" erfassen, nicht analysieren kann.

                                Das Herz aber verbindet alles zu einer großen Einheit. Vergangenheit und Zukunft werden eingebunden, aber das Jetzt, das Hierundjetzt wird zu dem wichtigsten Flow - wie man das heute nennt. Und, weil das sogenannte "Herz" ja auch in unserem Gehirn sitzt, möchte ich mit Gerald Hüther sagen: ein Gehirn allein kann nicht für sich existieren, alle Gehirne kommunizieren beständig miteinander.

                                Es ist gut und für einen Erfolg wesentlich, alles an kleinen Ritualen fest zu machen. So habe ich das Bild meines Vaters, den ich nie kennen lernte, seit einer Weile aufgestellt, beim Arbeiten schaue ich auf ihn und rede mit ihm. Erzähle von meiner Arbeit, wie schön und sinnvoll sie ist und er lächelt und freut sich. Schon klar: das spielt alles in meinem Verstand. Aber nur rein denkerisch, das ist zu wenig, es ist kein Zufall, das die Menschheit sich immer schon mit Ritualen umgeben hat. Wer sind wir, darüber stehen zu wollen? Das wäre dumm. Im Gegenteil! Aber wir sind auch klug genug, unsere eigenen Rituale zu erfinden, wenn die vorhandenen nicht unsere Zwecke bedienen, uns leer erscheinen.

                                Darum tue unbedingt, was dich mit ihm in Verbindung bringt! Danach oder dabei komm wieder in das Hierundjetzt. Das tue ich mit meiner Mutter, meinem Vater und anderen Menschen, die ich verlor. Und es tut gut. 3 Jahre nach ihrem Tod ist sie präsenter denn je. Aber auf eine viel schönere Art - man prophezeite mir das und es stimmt! Das, was es schöner macht, ist, das in den Momenten der Erinnerung, der seelischen Verbindung mit ihr und allen anderen, die extrem schmerzende Trauer einer Melancholie gewichen ist, die zwar vermisst, die Trauer beinhaltet, die aber von der Freude des Erlebten, von der Liebe mehr als ausgeglichen ist. Und nicht mehr abhält, das Hierundjetzt zu geniessen

                                Lieben Gruß

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